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Ich versuchte ihr Lächeln zu erwidern. Das waren doch gute Nachrichten, oder? Warum hörte es sich dann trotzdem irgendwie falsch an?
»Na ja, jedenfalls hast du dir eine gute Zeit ausgesucht für deine Bewusstlosigkeit. Jetzt ist zwar alles geregelt, es war aber doch ziemliche Endzeitstimmung. Mutter hat É na ja, das siehst du dann ja selbst. Sie hat jedenfalls ernsthaft daran gedacht, Amaurot zu verkaufen.«
»Verkaufen?« Ich stützte mich auf den Ellbogen. »Mutter würde nie verkaufen! Was hast du ihr erzählt? Hast du ihr etwa irgendwelche Flausen in den Kopf gesetzt?«
»Ich habe ihr keine Flausen in den Kopf gesetzt, Charles. Du weißt selbst, dass sie hier seit Vaters Tod nicht mehr glücklich war, wie elend und verloren sie sich in diesem riesigen leeren Anwesen gefühlt haben muss. Und zur gleichen Zeit kaufen um uns herum diese Computermenschen alles auf. Praktisch jede Woche steht einer vor der Tür und macht sein Angebot - wahnwitzige Angebote, Summen, die auf einen Schlag für alle Schulden gereicht hätten, plus für ein Häuschen auf dem Land, in das sie sich hätte zurückziehen könnenÉ«
Sie setzte sich wieder auf den Stuhl am Fußende des Bettes, nahm ihr Buch und fing an, darin herumzublättern. »Und dann hat mir eines Abends Mirela von der Theatergruppe erzählt, die sie in Jugoslawien hatten, bevor der Krieg und das alles angefangen hat. Die haben alle möglichen Sachen gemacht, Workshops, Straßentheater, politisches Zeug. Der Gründer hat in seinem Haus mit ein paar Freunden angefangen, und von da hat es sich dann ausgebreitet. Und ich hab mir gedacht, warum sollen wir das Gleiche nicht auch in Amaurot machen? Wir haben dermaßen viel Platz, wo man proben kann und Klassen abhalten, alles Mögliche, und dann die vielen Gästezimmer, da hat seit Jahren keiner mehr drin geschlafen - je mehr man drüber nachdenkt, desto klarer wird einem, wie perfekt das alles passen würde. Ich war mir nicht sicher, was Mutter davon halten würde, aber als ich es ihr dann gesagt habe, war sie genauso begeistert wie ichÉ«

A
lso hatte sich Bel gleich am nächsten Morgen mit einigen ihrer früheren Studienkollegen aus der Schauspielklasse in Verbindung gesetzt, die ihr mit dem Entwurf für ein Theater helfen sollten. Den Entwurf hatten sie Mrs Ps Sohn Vuk gegeben, der, wie sich herausgestellt hatte, Architekt gewesen war, bevor er Wohnstatt in meinem vormaligen Gartenturm genommen hatte. Ich sollte hier vielleicht anmerken, dass Vuk, Zoran und die betörende Mirela in diesem Klima der Anarchie, das in Amaurot inzwischen die Oberhand gewonnen zu haben schien, in die Gästezimmer gezogen waren, bis über ihre Asylanträge entschieden sein würde; Mrs P blieb als Haushälterin in Stellung, ohne dass Mutter ihr Gehalt auch nur gekürzt hätte. Während Bel redete, dämmerte mir langsam, dass es sich dabei nicht um eines der Hirngespinste handelte, von dem sie eine Woche lang besessen war und das sie dann wieder vergaß, dass Bel und Mutter - ohne den mäßigenden, stabilisierenden Einfluss meinerseits - eine Art unheiliger Allianz geschlossen und schon damit begonnen hatten, ihr wahnwitziges Projekt ins Werk zu setzen.
»Wir werden den alten Ballsaal wieder aufmachen und da die Bühne einbauen. Wir warten nur noch darauf, dass die Bauarbeiter aus Tibet zurückkommen. Ist das nicht wunderbar, Charles? Schluss mit der Rumhechelei von einem Vorsprechtermin zum anderen, wir können spielen, was wir wollenÉ« Sie stand auf, tänzelte mit vor der Brust verschränkten Händen durchs Zimmer und fing an, Stücke und Dramatiker, Projekte und Strategien herunterzurasseln. Darin kamen unheilvoll nebeneinander stehende Worte wie Künstler und Wohnort, wie jede Menge Platz und Gemeinschaft vor. Und währenddessen saß ich da, mein Kopf blubberte unter dem Verband wie ein gewaltiger Pudding, und von der gegenüberliegenden Wand verspottete mich das Poster - Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens.
»Das ist doch absurd.«
Sie hörte auf herumzutänzeln und schaute mich an. Hinter meiner linken Schulter piepste einer der Monitore schrill. »Das ist doch absurd«, sagte ich noch einmal. »Die ganze Idee. Amaurot ist schon ein Wohnort, ich wohne da. Tut mir Leid, dass du all die Pläne umsonst gemacht hast. Aber das ist ein Haus, in dem Menschen leben. Du kannst nicht einfach hergehen und was anderes draus machen.«
»Aber wir haben schon alles durchgesprochen«, sagte sie. »Du weißt, dass wir das Haus nicht halten können, so wie es ist. Das weißt du genau. Wir müssen uns umstellen, oder wir verlieren es.«
»Ich verstehe nicht, wie der Umbau in ein Theater irgendwem helfen soll.«
Sie zögerte kurz und schlängelte sich dann vorsichtig zurück zum Bett. »Na ja, es wird kein normales Theater«, sagte sie. »Es soll ein Ort für Menschen sein, die sonst nicht mal in die Nähe eines Theaters kommen. Sie können hier lernen, sich selbst auszudrücken. Wir wollen, dass Menschen aus unterprivilegierten Schichten herkommen und bleiben können undÉ«
Mein Kopf fiel zurück aufs Kissen. »Bist du noch bei Sinnen? Hast du überhaupt eine Ahnung, wie es in unserer Gesellschaft zugeht?«
»Ich weiß, es klingt komisch.« Sie streckte flehend den Arm aus. »Hör mir bitte einfach nur zu, okay? Es gibt einen guten Grund dafür. Ich hab das mit Geoffrey durchgesprochen. Er sagt, wenn wir uns richtig präsentieren, dann hätten wir Anspruch auf jede Menge staatlicher Zuschüsse. Wir bieten Menschen unsere Hilfe an, dann kommt der multikulturelle Aspekt dazu, wegen Mirela, weil sie vom Balkan kommt. Wenn das Theater Erfolg hat, könnten wir vielleicht sogar erreichen, dass Amaurot als gemeinnütziger Verein anerkannt wird. Denk doch mal nach, Charles. Wir könnten immer hier bleiben, wir bräuchten uns keine Sorgen mehr zu machen wegen Banken oder Gläubigern oder UnterhaltskostenÉ« Sie lehnte sich zurück und schaute mich ernst an. »Mal abgesehen vom Geld ist das auch eine Chance, dass Amaurot wieder bekannter wird, dass es wieder für etwas steht. Das wolltest du doch immer, oder? Und es würde für etwas Gutes stehen. Wir haben zahllose Möglichkeiten, wenn man erst mal genauer drüber nachdenkt. Wir können Unterricht geben, Schauspielunterricht, für die Kids aus der Stadt; sie kommen für einen Tag hier raus undÉ«
»Warum so bescheiden?«, sagte ich. »Reiß die Tore doch gleich ganz auf. Wir könnten Führungen veranstalten: ÝUnd hier sehen Sie das Schlafzimmer von Charles Hythloday. Dies ist das Album mit den Briefmarken, die er als Kind gesammelt hat. Ich darf Sie bitten, keine Zigaretten darauf auszudrückenÉÜ«
Draußen auf dem Gang läutete eine Glocke. Seufzend nahm Bel ihre Jacke von der Stuhllehne. »Du musst eins begreifen, Charles«, sagte sie. »Wir sind nicht mehr reich. So einfach ist das. Leben auf Amaurot hieße ums nackte Überleben kämpfen; das ist, wie auf einer kleinen Insel zu sitzen und immer weiter vom eigentlichen Leben abgetrieben zu werden.« Sie holte tief Luft und atmete wieder aus. »Das ist eine gute Sache, sieh das doch ein«, sagte sie und legte mir eine Hand auf den Arm. »Auf diese Weise können wir das Haus halten, und wir können alle zusammenbleibenÉ«
Trotz meines derangierten Geisteszustands fiel mir auf, dass das seit unserem unbeabsichtigten Tete-a-Tete im Dunkeln das erste Mal war, dass sie mich berührte - sie reichte mir den Ölzweig. Aber so leicht würde ich mich nicht kaufen lassen. Ohne zu antworten, wandte ich den Kopf zur Seite und fixierte mit starrem Blick den Zipfel Himmel, der im Fenster noch zu sehen war. Schließlich nahm sie die Hand von meinem Arm, und ich hörte das Knarzen des Stuhls. Sie stand auf und ging.

D
er Punkt war: Im Grunde wusste ich, dass sie Recht hatte; alles veränderte sich, das neue Geld übernahm das Kommando. Man sah diese neuen Leute am Wochenende: blass von den dämmerigen Tagen und Nächten, die sie eingegraben in Bürotürmen zubrachten, krochen sie in ihren BMWs und klotzigen Jeeps über die engen gewundenen Straßen und spähten nach Grundstücken wie zahnlose anämische Haie. Was, wenn es tatsächlich keine andere Möglichkeit gab, das Haus vor diesen Leuten in Sicherheit zu bringen? Ich versuchte mir Amaurot als Heimstatt voller plappernder Fremder vorzustellen; ich sah mich am Frühstückstisch sitzen, mir gegenüber die Unterprivilegierten. Würde ich mich mit ihnen unterhalten müssen? Würden sie sich Dinge von mir ausleihen wollen? Rasierklingen, Krawatten? Der Gedanke war zu schmerzlich, um ihn überhaupt zu denken. Die weit bessere Lösung schien mir zu sein, einfach alles zu ignorieren, so zu tun, als habe das Gespräch mit Bel nie stattgefunden. Das wäre ohne große Probleme machbar; Schmerzmittel waren ja ausreichend vorhanden. Sie sorgten für eine fette und klebrige, an den Rändern ausfransende Wirklichkeit, die nur gestört wurde vom Kommen und Gehen der Ärzte und Schwestern und vom todbringenden Pfeifen des Patienten nebenan, das sich anhörte, als bliese ein trockener Wind durch einen versteinerten Wald.
In jener Nacht jedoch - der ersten, die ich nach meiner Daseinslücke wieder auf Erden verbrachte - konnte ich nicht schlafen. Ich lag stundenlang wach und starrte auf den Wall der um mich herum aufgebauten Bildschirme und Kontrollgeräte, die piepsend in Diagrammen und Impulsen die unsägliche Geschichte meines Körpers erzählten. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 18.04.2006