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Oder wir gingen zu den Windhunden auf die Rennbahn.
Die Rennen waren nichts im Vergleich zu denen, die ich mit Frank gesehen hatte. Die Bahn war mit komplizierten Kreidelinien ausgezeichnet, an bestimmten Stellen rund um den Kurs standen Flaggen, und die Hunde hatten schauerlich klingende, okkultistische Namen wie Hekate oder Isis. Die Sonne konnte immer noch ziemlich heiß sein, sodass Yeats darauf bestand, seinen absurden Sombrero zu tragen, unter dessen riesiger Krempe fast sein ganzes Gesicht im Dunkeln lag. Das hieß nicht, dass er die Angelegenheit nicht sehr ernst nahm. Er hatte immer so eine Art Kalender dabei, in den er während der Dauer eines Rennens wie im Fieber hineinkritzelte. Er machte ein großes Geheimnis darum und hielt argwöhnisch den Arm darüber. Ich vermutete, dass es sich um eine Art Rennprogramm handelte. Die wenigen Male, als ich es schaffte, einen Blick über seine Schulter zu werfen, sah ich allerdings nur fremdartige Runen und astrologische Diagramme. Er wollte mir nicht verraten, was sie bedeuteten; genauso wenig, warum er sich anscheinend mehr für das Verhalten der verschiedenen Hunde interessierte als dafür, wer das Rennen gewann. Er beschränkte sich auf geheimnisvolle Bemerkungen über logische Verknüpfungen.
»Was haben logische Verknüpfungen damit zu tun? Das ist ein Rennen, aus. Ich meine, die einzige Frage ist doch, ob diese Shiva da gewinnt, damit wir uns den pompösen Samowar kaufen können, auf den Sie so stehen, oder ob sie nicht gewinnt, in welchem Falle wir uns weiter mit dem gewöhnlichen Teekessel bescheiden müssten.«
»Die Gestalt der Dinge, Charles«, erwiderte er darauf, und ein undurchdringliches Grinsen blitzte unter der Krempe des Sombreros auf. »Ist das nicht die weit interessantere Frage? Wie unterscheiden wir den Tänzer von dem Tanz?«
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Was anderes É Warum laufen Sie nicht rüber zu einem von den Imbissverkäufern da und holen uns ein paar Hotdogs? Na, wie wärÕs?« Während ich die würzige, warme Wurst kaute, fragte ich mich, nach was für zusätzlichen Informationen er suchte, wo doch alles, was sich ein Mensch nur wünschen konnte, direkt vor uns lag. Sonnengebräunte Einheimische jubelten und rissen die Arme in die Höhe, während die Hunde der Ziellinie entgegenhechelten. Ich schaute nach Westen, wo über dem Ozean die Sonne unterging, und wünschte mir für einen Augenblick, dass Vater jetzt hier wäre und das sehen könnte. Ihm hätte es hier gefallen, hier oben an diesem kleinen Holzgatter, zusammen mit mir und Yeats: alte Jäger, die mit den Göttern schwatzen.

D
ann, eines Tages, aus heiterem Himmel, sagte Yeats, ich solle mich auf die Seite legen, weil er irgendetwas Anales zu erledigen habe. Als ich ihn anschaute, um mich zu vergewissern, ob ich ihn auch richtig verstanden hätte, hatte er sich in eine Krankenschwester mit knochigen Zügen und Chile in ein schwach beleuchtetes Zimmer mit grün gestrichenen Wänden und perforierten Deckenplatten verwandelt. Irgendetwas klebte fest an meinem Schädel, und um mich herum standen Schattengestalten. Ich wehrte mich, so gut ich konnte:Ich schloss die Augen, ich bettelte, dass sie mich in Frieden lassen sollten. Aber es war wie unter Wasser: So sehr ich auch strampelte, mit jeder Sekunde trieb es mich weiter der Oberfläche entgegen. Und Chile, unser kleines Haus, die Zitronenbäume waren schon weit, weit wegÉ


Sechs
Du! Du! Du!« Bel stapfte über die Bodendielen, die goldenen Armbänder an ihrem Unterarm klackerten. »Du bist schuld, dass ich auf Heroin bin!«
»Ich?«, sagte Mirela ungläubig und stand vom Tisch auf. »Aber wie kann ich daran schuld sein?«
»Verstehst du denn nicht?«, sagte Bel mit beschwörender Stimme. »Meine Sucht war ein Hilfeschrei. Das Heroin war der Ersatz für die Liebe, die du und, auf einer höheren Ebene, die Gesellschaft mir verweigert haben.«
Mirela stützte sich an der Rückenlehne des Stuhls ab. Das lange Kleid berührte den Boden. »Wie kannst du sagen, dass ich dich nicht geliebt habe?«, sagte sie stockend. »War nicht ich es, die dich all die Jahre gekleidet und genährt hat? War nicht ich es, die immer ihre letzten Schillinge zusammengekratzt hat für deine Schulbücher?«
»Du verstehst mich nicht, Mama«, sagte Bel. »Was dein Unverständnis gegenüber der jüngeren Generation angeht, bist du genau wie die Regierung. Wir brauchen mehr als Methadonkliniken und Wiedereingliederungsprogramme. Wir müssen uns wieder als richtige Menschen respektieren, die so viel wert sind wie alle anderen. Richtig, du hast all das für mich getan. Aber du hast es nie geschafft, die drei kleinen Worte auszusprechen, die für jedes Kind auf der Welt die wichtigsten sind.«
Mirela schien direkt vor unseren Augen zusammenzuklappen. Als sie sich gramgebeugt wieder auf dem Stuhl niederließ, hätte man im alten Ballsaal eine Stecknadel fallen hören - was meine Hoffnung zunichte machte, mal schnell auf ein Regenerierungsschlückchen raus an die Bar zu springen.
»Das ist ein Teufelskreis, Mama«, fuhr Bel fort. »Weil wir so nie gelernt haben, uns selbst zu lieben. Deshalb ist aus Dougie ein Joyrider geworden, einer, der den Kick der Spritztouren mit geklauten Autos brauchte. Das und auch die zeitweise Erlösung durch Drogen ersetzten ihm nicht nur das von der Gesellschaft vorenthaltene Selbstwertgefühl, es hat ihm auch die Flucht aus der Monotonie der Langzeitarbeitslosigkeit erlaubt.«
»Wenn ich das alles nur früher gewusst hätteÉ« Mirela schüttelte traurig den Kopf, wobei ein Wölkchen Talkumpuder von ihrer Perücke aufstieg. »Er hätte keinen so sinnlosen Tod sterben müssen.«

B
el legte eine Hand auf ihre Schulter. »Um die anderen zu retten, ist es noch nicht zu spät. Wenn wir alle zusammenarbeiten und das beherzigen, was wir heute Abend gelernt haben.«
»Ich bin stolz auf dich«, sagte Mirela. »Du hast das alles durchgestanden und bist dadurch eine noch stärkere Frau geworden. Das gibt mir Hoffnung für die Zukunft.«

A
uch mir gab das Hoffnung für die Zukunft, sodass ich schon mal meine Jacke anzog. Aber der Vorhang fiel noch nicht, weil nämlich Bel zu Mirela sagte, da sie gerade von der Zukunft spreche - sie sei schwanger. Immer wenn man dachte, jetzt ist es aus, wurde jemand schwanger oder von einem Joyrider über den Haufen gefahren. Mein Kopf pochte. Merkten sie nicht, dass sie es ein bisschen zu arg mit uns trieben? Ich mahlte mit den Zähnen, ich riss schmale Papierstreifen vom Programmzettel »Feuer frei! - Ein Stück des RH Workshop«, rollte sie zu Kügelchen und bewarf Frank damit, der in der ersten Reihe saß. Ich legte die Stirn in Falten und versuchte per Willenskraft das Ende herbeizuzwingen, worauf mir aber nur mein Kopf noch mehr wehtat und sich Schweißtropfen unter meinem Verband bildeten.

I
ch hatte erst am Nachmittag das Krankenhaus verlassen, und wenn sich jemand die Mühe gemacht hätte, mich zu fragen, dann hätte ich ihm vielleicht erzählt, dass ich es unter Abwägung aller Umstände vorgezogen hätte, den ersten Abend zu Hause nicht in Gesellschaft von hundert glotzenden Fremden zu verbringen. Aber mich hatte niemand gefragt, und noch bis weit in den ersten Akt hinein hatte sich so manches bange Gesicht nach mir, der ich in der letzten Reihe saß, umgeblickt. Vielleicht in der Annahme, ich sei einer aus jener endlosen Reihe von lange verschollenen Joyrider-Halbbrüdern, oder aus Furcht, ich könne irgendeinen Phantom-der-Oper-Stunt abziehen und mich von der Scheinwerferbrücke hinabschwingen - ein Gedanke, der mir zugegebenermaßen für den Bruchteil eines Sekündchens durch den Kopf geschossen war. Doch da, ja, die Lichter gingen aus und wieder an, die Leute sprangen auf, klatschten, Bel und Mirela traten vor, strahlend, verbeugten sich. Ich hielt noch kurz an mich und applaudierte, eilte dann aber vor der Meute Richtung Musikzimmer, wo Mrs P hinter der Bar stand und Gläser polierte. »Soda, bitte«, sagte ich.
»Ist Schluss?«, sagte sie.
»Ja«, sagte ich. »Hmm, vielleicht sollte ich ein Schlückchen Scotch dazu nehmen.«
Mrs P griff nach der Flasche. Ich leckte mir die Lippen, als der Flaschenhals den Rand des Glases berührte. »Ach, wissen Sie was, lassen wir das mit dem Soda, und machen Sie mir gleich einen Doppelten«, sagte ich und versuchte das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken.
Mrs P hielt inne und schaute mich misstrauisch an.
»Master Charles, ich glaube, Sie dürfen nicht trinken.«

H
e?«, sagte ich und gab den Ahnungslosen. Aber anscheinend hatte die schlechte Schauspielerei auf mich abgefärbt. Mrs P schaute mich vorwurfsvoll an und stellte die Flasche wieder weg. »Der Doktor hat gesagt, kein Schnaps.«
»Das hat er nicht gesagt, Mrs P, vielleicht jemand anders, Mutter vielleichtÉ« Das führte zu nichts. »Kommen Sie, würde ich Sie je anlügen?« Ich drückte flehentlich ihren Arm. »Liebe, gute Frau, glauben Sie das?«
»Master Charles, Sie tun mir weh.«
»Bitte, an so einem besonderen Abend!« Ich bettelte wie im Fieber. »An so einem ganz besonderen Abend!«

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 11.04.2006