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Die ersten Zuschauer kamen aus dem Theatersaal. Kopfschüttelnd schenkte Mrs P einen Whisky ein, schob mir das Glas hin, und ich zog mich dankbar in ein abgeschiedenes Eck zurück. Doch gerade als ich mir den Stoff hinter die Binde kippen wollte, wurde mir das Glas von den Lippen gerissen - und zwar von keiner Geringeren als Bel, in deren Kielwasser die schnatternde Schar ihrer krätzigen Schauspielerfreunde in den Raum drängte.
»Was fällt dir ein?«, sagte ich. »Gib das wieder her.«
»Solange er Medikamente nimmt, darf er keinen Alkohol trinken«, sagte Bel zu den Schauspielern. »Er geht schon die Wände hoch. Die Welt hat jede Bedeutung für ihn verloren.«
»Was ist passiert?«, fragte ein Kerl mit idiotisch geflochtenen Haaren.

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as ist eine lange Geschichte«, sagte Bel und nippte an meinem Whisky. Sie trug immer noch das Make-up aus dem Stück. Jenseits der Bühne wirkte es grell und unpassend, als käme sie geradewegs aus einer viktorianischen Kaschemme. »Kurz gesagt, er hat versucht, den Turm im Park in die Luft zu sprengen, um die Versicherung zu kassieren, und dabei ist ihm eine seiner Wasserspeiersonderanfertigungen gegen den Schädel geknallt. Er hat sechs Wochen im Koma gelegen.«
»Der Arme«, flötete eine nicht unansehnliche Blondine und bedachte mich mit einem betroffenen Blick.
»Kein Grund zur Sorge«, versicherte ich. »Sie zucken ja noch, die alten Knochen.«
»So weit gehtÕs ihm wieder ganz gut«, sagte Bel. »Ihr hättet ihn an dem Abend sehen sollen, als es passiert ist. Sein Kopf hat ausgehen wie ein Kürbis.«
»Wie schrecklich«, säuselte die Blondine und schaute mich wieder betroffen an.
»Und Sie sindÉ?«, preschte ich vor, aber da hatte sie sich schon wieder Bel zugewandt, um weitere Einzelheiten in Erfahrung zu bringen. Ich kam mir vor wie ein demolierter Hutständer oder ein Beagle mit einer bandagierten Pfote.
»Irgendwie war es auch komisch«, sagte Bel. »Als ihn das Ding erwischt hatte, ist er nämlich noch ein paar Minuten auf dem Rasen rumgelaufen und hat Überreste von dem explodierten Silberzeug eingesammelt, und die hat er dann in Franks Lieferwagen verstautÉ«
»Im Lieferwagen?«, sagte der Kerl mit den Haaren.
»Also geh ich hin zu ihm, um ihn zu beruhigen und damit er sich hinlegt, bis der Krankenwagen kommt, und er hält bloß eine Hand hoch undÉ« Ihr Gesicht war inzwischen blassrot angelaufen, und es dauerte einen Augenblick, bis sie sich das Kichern wieder verkniffen hatte. »Also, er sagt, ich soll ganz ruhig bleiben, und er weiß zwar im Moment nicht genau, wo Südamerika liegt, aber wir finden sicher jemanden, den wir nach dem Weg fragen können.«
»Nun ja, das hatte natürlich einen GrundÉ«, wollte ich mich erklären, aber sie lachten alle so laut, dass sie mich gar nicht hörten. Ich bekam allmählich eine vage Vorstellung davon, was das Phantom der Oper durchgemacht haben musste. Diese Theatermenschen konnten ziemlich gefühllos sein. So sehr ich mich auch abmühte, meine Version der Geschichte anzubringen, das Gespräch rollte über mich hinweg wie ein Dreißigtonner. Und da ich mir auch keine Hoffnung mehr machte, von Bel meinen Drink zurückzubekommen, gab ich schließlich auf und stapfte davon.

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nd zwar direkt in Mutters Arme, die hinter uns stand und gerade eine Gruppe dumpf dreinblickender älterer Herrschaften mit einer ihrer Theateranekdoten ergötzte, und zwar der, als sie bei einer Wohltätigkeitsvorstellung vom Sommernachtstraum mit Kindern der Polio-Schule Vater kennen gelernt hatte. »Ich habe die Titania gespielt und er den Oberon, und er war so unglaublich attraktiv, und dann waren da diese Kinder, die die Elfen spielen wollten, und wir steckten ziemlich in der Bredouille, weil die Armen unbedingt mitspielen wollten, obwohl die meisten ja nicht mal gehen konnten, geschweige denn tanzenÉ«
»Was ist das denn für ein komischer Vogel?«, sagte ein rüstiger Herr, der neben ihr stand.
»Das ist Charles.« Mutters Tonfall veränderte sich schlagartig. »Entschuldigen Sie mich bitte, ich müsste mal eben ein Wort mit meinem Sohn É Charles! Charles!«

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ir war ziemlich klar, warum sie mal eben ein Wort mit ihrem Sohn sprechen musste: Weil sie nämlich wissen wollte, warum ich ihr schon den ganzen Nachmittag gezielt aus dem Weg ging und warum ich mich jetzt taub stellte und einfach so in der Menge abtauchte - falls jemand mit einem rundum bandagierten Kopf überhaupt irgendwo abtauchen konnte. Blicke trafen mich und perlten wieder ab wie Wasser; manche gaben Kommentare ab, ohne auch nur die Stimme zu senken, als glaubten sie, weil sie mich ja nicht sehen konnten, dass ich eigentlich auch nicht da sei. Es war unbeschreiblich lästig. Und um alles noch schlimmer zu machen, erwischte ich hin und wieder auch selbst einen Blick von mir in einem Spiegel, zuckte zusammen und wünschte mir, ich sei tatsächlich unsichtbar.

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in paar Tage zuvor war ich ziemlich arglos aus dem Koma erwacht und hatte feststellen müssen, dass meine Welt komplett auf den Kopf gestellt war - nicht von der Bank, wie zu erwarten gewesen wäre, sondern von Bel, die in meiner Abwesenheit einen eigenen Plan zur Rettung Amaurots ausgeheckt hatte. »Wir machen ein Theater draus«, hatte sie gesagt, im Krankenhaus, am Tag, als ich wieder zu mir gekommen war. Ich war noch benebelt gewesen von den Schmerzmitteln, und der Plan war mir so augenfällig gestört vorgekommen, dass ich ihn, obwohl sie ihn mir ziemlich ausführlich erläuterte, nicht hatte glauben können. Und noch heute Abend, mit den ersten Früchten dieses Plans vor Augen - das Haus voller Schauspieler und reicher Kunstmäzene, der mit Bühne, Scheinwerfern und Plastikstühlen ausgestattete, für jedermann zugängliche Ballsaal -, konnte ich es immer noch nicht glauben. Ich wusste nur eins: Es war sehr, sehr wichtig, dass ich schnell etwas Alkoholisches fand.
Doch bevor ich mich auch nur bis auf fünf Meter der Bar genähert hatte, machte mir Mrs P mit ihrem Gesichtausdruck klar, dass die Chancen, ihr noch einen Drink abzuschwatzen, bei null lagen. Mit erhobenen Händen flehte ich um Gnade, doch sie stand nur mit verschränkten Armen da und schaute mich ungerührt an. So blieb mir nichts anderes übrig, als den Raum zu durchstreifen und nichts ahnenden Gästen ihre halb vollen Gläser zu klauen. Unnötig zu erwähnen, dass mir das nicht gefiel. Niemand sollte sich jemals gezwungen sehen, in seinem eigenen Haus Drinks zu stehlen. Aber ich fand heraus, dass ich das ziemlich gut konnte. Außerdem stellte ich fest, dass die Menschen aufgrund irgendeines unterbewussten Impulses lieber ihre Drinks opferten als sich der harten Realität meines Anblicks zu stellen. Und das nutzte ich skrupellos aus. Nach einem Martini, zwei Cosmopolitans und einem Brandy Alexander war ich wieder ein bisschen mehr bei mir selbst - zumindest so weit, dass ich mich Mirela nähern konnte.

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ie stand an der Bar und wankte schon leicht unter einer Frontalattacke von Frank und Laura. Auch sie hatte zwar noch die Schminke im Gesicht, doch hatte es bei ihr nicht diesen verwirrenden Effekt wie bei Bel. Sie sah sogar besser aus; ihr Teint wirkte kräftiger und leuchtender - wie bei einem restaurierten Gemälde, dachte ich. Und sie schien - was vielleicht aber auch daran lag, dass ich einiges durcheinander getrunken hatte - mit jeder Sekunde strahlender zu werden, mit jeder Sekunde das blässliche, gespenstische Mädchen, dem ich in jener Nacht begegnet war, weiter hinter sich zu lassen.
»Es war so É soÉ«, sagte Laura, während ihre Hände langsame, quetschende Bewegungen machten, als betaste sie die gewaltige, schwammige Masse Wahrheit, die das Stück ihr vermittelt hatte.
»Genau«, bekräftigte Frank.
»Es war wie EastEnders und Coronation Street und Brookside zusammen«, sagte Laura. »Außer dass es in Dublin war und mit echten Menschen drin.«
»Das hat mir echt was gebracht«, sagte Frank, wobei er die Worte so dehnte, als würde er sie gerade zum ersten Mal ausprobieren.
»Nun, das ist sehr schön«, sagte Mirela.
»Ich hab geweint«, sagte Laura nüchtern.
»Ehrlich?«
»Ja. Er auch.«
»Hab ich nicht.«
»Lügner, hast du doch.«
»Nein, ich hab dauernd das Puder in die Augen gekriegt, das da in der Luft rumgeschwirrt ist. Hab ich dir doch gesagt.«
»Das hast du nicht gesagt É O mein Gott!«
»Keine Panik, das ist Charlie. Alles paletti, Charlie? Wie gehtÕs der Birne?«
»Die Damen fahren offensichtlich voll drauf abÉ« Ich rieb mir die Stelle, wo mich Laura bei ihrem Panikluftsprung mit dem Ellbogen erwischt hatte.
»Vielleicht sollten wir dir ein Glöckchen anhängen«, sagte Mirela lachend.
»Vielleicht É hier, Laura, versuchÕs mal mit ein bisschen Tonic.«
»Das kann ich selbst«, brummte sie, riss mir die Serviette aus der Hand und betupfte den dunklen Fleck auf ihrer Bluse. »Das war die letzte, die Top Shop in meiner Größe dahatte. Mist, die kann ich nicht anbehaltenÉ«
»Ich helf dir«, sagte Frank und zwinkerte mir zu, als er die immer noch ärgerlich an ihrer Bluse herumreibende Laura Richtung Bad bugsierte. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 12.04.2006