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3. Juni 1970: Die deutsche Mannschaft besiegt zum Auftakt die Marokkaner mit 2:1 - und wird am Ende Gruppensieger.

Wenn das Schifferklavier
in Acapulco erklingt

Fiesta Mexicana und eine Polonaise durch Guadalajara

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Es gibt ein Foto, das einen jubelnden Werner Weih mit Sombrero und einem Schild in der Hand zeigt. Auf dem steht: »3:2 - Hallo Mexiko, wir koooommen!«

Damit ist aber nicht etwa ein möglicher Sturmlauf ins Endspiel nach dem formidablen 3:2 gegen die Engländer im Viertelfinale gemeint, als Beckenbauer, Seeler und (in der Verlängerung) Gerd Müller ein aussichtslos scheinendes 0:2 noch drehten. Das Schild erinnert vielmehr an den wichtigen Sieg in der Qualifikation gegen die Schotten, einen großen Schritt auf dem Weg in die Endrunde.
Ob nun Schotten oder Engländer - »prompt ist das Foto während des laufenden Turniers durch die Gazetten gegeistert«, erzählt der »König Fußball« aus Bielefeld nicht ohne Stolz. Auch wenn die ganz spezielle Krone noch fehlte (sie wurde ja erst 1982 in Spanien gefertigt), so nahm man den weltoffenen Schlachtenbummler doch weithin wahr, und weil auf der anderen Seite die Einheimischen ihre Gäste mit ausgebreiteten Armen empfingen, hieß es mehr als einmal »Hossa!« bzw. »Fiesta Mexicana«.
Zu manchen »Arriba!«-Rufen orgelte allerdings das Schifferklavier: Einer von Werner Weihs Begleitern, Rolf Donnermann vom DSC Arminia, brillierte auf diesem urdeutschen Instrument. »Einmal in Guadalajara sind wir gegen Mitternacht mit klingendem Spiel und Polonaise um die Häuser gezogen - Mann, das war vielleicht eine Schau!«
In gewisser Weise absolvierte unser König Fußball in der Fremde sowieso ein Heimspiel, denn aus seinem »Zivilberuf« als Chefportier des »Bielefelder Hofs« (heute »Mövenpick«) kannte er einige Mexikaner, die ihn bereits im Vorfeld der WM um einen Besuch gebeten hatten. »Einmal wurde ich mit einer großen Limousine abgeholt, die Köchin des Gastgebers bereitete ein herrliches Mahl zu und servierte landestypische Speisen, und anschließend lernte ich viele Sehenswürdigkeiten in filmischen Beiträgen kennen.« Zum Abschied schenkte ihm der spendable Mann eine silberne Brosche (»Für Ihre Frau!«).
Acapulco? Schön und gut, da hat Werner Weih natürlich die berühmten Todesspringer von den Klippen sich stürzen sehen, aber so manches Fleckchen Erde, das kaum je ein Tourist zu Gesicht bekam, bereiste er, weil ihn ein Einheimischer persönlich hinfuhr.
Mexiko, das darf man nicht vergessen, war ja keineswegs mit Reichtümern gesegnet. Wer besaß vor 36 Jahren schon ein Auto? Viel eher doch einen Esel, »und wenn der auf einem der endlosen Überlandreisen verendete, nahmen sich die Geier seiner an - die hockten überall an den Straßenrändern«, erinnert sich Werner Weih.
Nie vergessen wird er auch das legendäre Halbfinale gegen Italien. Schnellingers Ausgleich in allerallerletzter Minute zum 1:1. Dann die einzigartige Sternstunde beider Mannschaften in der Verlängerung:
2:1 Gerd Müller (95. Minute).
2:2 Burgnich (98. Minute).
2:3 Riva (103. Minute).
3:3 Gerd Müller (110. Minute).
3:4 Rivera (112. Minute).
nach dieser Energieleistung wankten die Azzurri völlig entkräftet vom Platz. Und viel Zeit, sich zu regenerieren, verblieb ihnen nicht, so dass sie im Endspiel sang- und klanglos gegen Brasilen eingingen (1:4).
»Noch heute bin ich überzeugt, dass es das beste Spiel einer deutschen Nationalelf war, das ich je gesehen habe«, beteuert Werner Weih. Und was steuert der Dichter zu dieser epochalen Partie bei? Na, das hier:
»Dann kommt der Schlag. Rivera ist der Schütze.Sepp Maier schluckt und Vogts wird leichenblaß.Und Willi Schulz sinkt lappenschlapp ins Gras.Und Schön kratzt sich verlassen an der Mütze.Das war ein Drama allererster Sorte.Hier schweige ich. Es fehlen mir die Worte.«Sie hörten Ror Wolf.

Artikel vom 10.05.2006