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Souvenir: Das Ticket für das Viertelfinale gegen Uruguay.
Nach dem denkwürdigen Finale gibt ein trauriger Sepp Herberger Autogramme.

Beatles, Minirock und
ein Tor, das keines war

Bangen Herzens trat Werner Weih die erste WM-Reise an

Von Matthias Meyer zur Heyde
Drin oder Linie? Diese Frage gehört in den Test für einbürgerungswillige Ausländer - allerdings kennen nicht einmal die Augenzeugen des legendären Wembley-Tors die richtige Antwort.

Auch Werner Weih nicht: »Am 30. Juli saß ich ungefähr in Höhe des englischen Strafraums, konnte also nicht sehen, ob Hursts Schuss ein reguläres Tor war. Vor allem aber ahnte doch in der 98. Minute noch niemand, wie entscheidend der Treffer sein würde.« Denn die Anhänger der deutschen Elf setzten ihre Hoffnungen auf die 22 Minuten, die noch zu spielen waren . . .
Vergeblich, wie man weiß. Und in letzter Sekunde fiel ja auch noch das 4:2. Genau wie Uwe Seeler ist es Werner Weih ein Rätsel geblieben, warum der Schiedsrichter diesen Treffer anerkannte: »Wir dachten doch alle, die Partie sei beendet, und die Fans liefen schon übers Spielfeld - da hätte man abpfeifen müssen!«
Nun, man kann nicht alles haben, dachte sich der Fan aus Bielefeld, der sich später zum weltweit berühmten »König Fußball« krönen sollte. »1966 aber war ich noch ein junger Hüpfer, keiner kannte mich - trotzdem haben mich die Polizisten nach dem Spiel zu dem traurig vor dem Stadion stehenden Alt-Bundestrainer Sepp Herberger durchgewunken. Ich hab ihn getröstet, und er war so dankbar dafür, dass er mir mehrere Minuten seiner Zeit widmete.«
Gleich im ersten »Regierungsjahr« von König Fußball der erste Paukenschlag. Doch der Reihe nach. Werner Weih trat am 12. Juli 1966 den ersten Flug seines Lebens an: von Düsseldorf nach London. Dann per Bus nach Leicester, wo sich die deutschen Schlachtenbummler, weil Semesterferien waren, in leerstehenden Studentenwohnheimen einquartierten. Gemeinsames Erleben eint: »Während der WM feierte ich 31. Geburtstag. Punkt Mitternacht wurde ich mit einem Ständchen geweckt und mit Blumen überhäuft. Eigenhändig gepflückt. Aus den nahen Vorgärten. Eine schöne Geste!«
Die beiden schönsten Geschenke jenes denkwürdigen Wiegenfestes machten ihm - noch am selben Tag - Helmut Haller und Franz Beckenbauer: 1:0 und 2:0 im Halbfinalspiel gegen die Sowjetunion (Endstand 2:1). Fußballfans, die die alten Turnierpläne aufbewahrt haben, wissen: Aha, der Werner Weih hat am 25. Juli Geburtstag.
In der Vorrundengruppe B hatten Seeler & Co. zunächst die Schweiz (5:0) und Spanien (2:1) bezwungen und gegen Argentinien 0:0 gespielt. Im Viertelfinale schickten sie die Urus nach einem 4:0 nach Hause, und über das Endspiel sind Sie ja informiert . . .
Das Spiel gegen die UdSSR fand übrigens in Liverpool statt, in der Heimatstadt der »Beatles«. Und weil Werner Weih bereits bei seinem ersten großen Turnier an Land und Leuten ebenso interessiert war wie am Fußball, betrachtete er es als Ehrensache, mal im »Cavern Club« vorbeizuschauen, in dem die vier Pilzköpfe »She loves you, yeah, yeah, yeah!« geschmettert hatten.
Drei Tage »auf Schlür« in der Weltstadt London, dazu ein Besuch bei der deutschen Delegation in Ashbourne, trugen zum schönen Gesamteindruck der Reise bei. »Damals kamen wir ja noch viel leichter in die Nähe der Spieler - paradiesische Zeiten für Fans. Werner Weih schoss damals ein Foto, dass Horst Dieter »Eisenfuß« Höttges zusammen mit dem Ersatzmann Max Lorenz und einem auf der Insel hochberühmten Kicker zeigt: mit Bert Trautmann.
Trautmann war einst mit knapper Not einem deutschen Kriegsgericht entkommen, in englischer Gefangenschaft entdeckt und 1948 als Torwart für Manchester City verpflichtet worden. Im Jahr 1956 sicherte der noch heute in England verehrte Held den Pokalsieg seiner Mannschaft mit Glanzparaden - trotz eines gebrochenen Genicks!
Auch ohne dass die deutsche Elf Vizeweltmeister geworden wäre, hätte sich der Trip nach merry old England sicherlich gelohnt: Der Minirock war da! Darüber freut sich auch der Fußballfan, und Werner Weih glaubt, eine Gemeinsamkeit von Mode und Literatur entdeckt zu haben: »Der Minirock gleicht dem Fortsetzungsroman - zu erkennen ist ziemlich viel, aber man ist dennoch gespannt, wie's weitergeht . . .«

Artikel vom 06.05.2006