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The Economist


 
»Italien, das ist
der wahre
kranke Mann
Europas.«

Leitartikel
Große Oper im TV-Duell

Italienische Topseller und Märchenonkel


Von Reinhard Brockmann
»Italien, das ist der wahre kranke Mann Europas«: Das britische Magazin »The Economist« ließ soeben aufhorchen mit Fakten, die an unselige sizilianische Verhältnisse und galoppierende Lira erinnerten. Aber die Daten waren frisch: Null-Wachstum, neue Korruption, Steuerflucht, islamistische Gefährdung höchster Stufe und Erwachen der Mafia.
Von alledem hörten die Italiener am Montagabend allerdings kein Wort. Beim letzten TV-Duell vor den Wahlen boten die Spitzenkandidaten große Oper und kleine Gemeinheiten, ganz nach dem Geschmack des Südländers.
Ein etwas (zu theatralisch) übel gelaunter, ständig stichelnder Silvio Berlusconi, ein onkelhafter Herausforderer mit großer Gönnergeste namens Romano Prodi boten Infotainment vom Feinsten. Vor allem: Silvio, genannt der »Kaiman«, schnappte am Ende zu auf eine Art, wie sie die Duell-Designer künftiger US-Präsidentschaften gewiss noch stundenlang analysieren werden.
Im Schlusswort wechselte der 69-jährige Milliardär urplötzlich die Mimik, die Körperhaltung und alles, was ihn lange Zeit schwach erscheinen ließ. Wie der Topseller vom Autoplatz machte er den Wählern jenes Last-minute-Angebot, das man nicht ausschlagen kann: »Wenn Sie wieder für uns stimmen, werden wir die Kommunalsteuer fürs erste Haus abschaffen. Ja, Sie haben mich richtig verstanden!«
20 Millionen Eigenheimbesitzern schaute das Filou treuherzig in die Augen, Prodi was so baff wie der Rest der Republik einschließlich Berlusconis eigener Partei. Sechs Tage vor dem Wahltag jubelte der Stabilisator vom Quirinale 2,6 Milliarden-Euro unter das Wahlvolk, die die Kommunen bezahlen müssen.
Die Italiener lieben ihn nicht, aber sie werden ihn möglicherweise wieder wählen. Die Wähler im Stiefel-Staat scheinen bei weitem nicht so festgelegt wie europäischen Medien, die Romano Prodi als Sieger sehen. Dabei musste sich der als Strohmann der Kommunisten verunglimpfte zwischenzeitliche EU-Kommissionspräsident in diesen Tagen als »nützlicher Idiot«, »Märchen-Erzähler« und »auszumerzendes Unkraut« beschimpfen lassen. Zwischen Rom und Mailand stört daran allenfalls, dass sich der 66-jährige Linke alles gefallen lässt und wie ein Weichling dasteht.
Umfragen dürfen inzwischen nicht mehr veröffentlicht werden, zu knapp steht der Wahltermin 9. und 10. April bevor. Wenn Prodi, der lange um 4 bis 6 Punkte führte, verliert, dann geschieht das auch wegen seiner widersprüchlichen Steuer-Pläne. Prodi, der ein Mitte-Links-Lager anführt, weist den Vorwurf geplanter Steuererhöhungen auf breiter Front vehement zurück, ein hilfloses Unterfangen.
Zu viele Fakten vorzutragen und zu konkret zu werden, den Menschen womöglich auch noch etwas abzuverlangen, das macht die schönsten Umfrage-Vorsprünge kaputt. Silvio Berlusconi hat offenbar die Auslandspresse gelesen, vor allem die deutsche im vergangenen Herbst.

Artikel vom 05.04.2006