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Allerdings fiel mir auf, dass er, gerade als sie die Tür erreichten, einen merkwürdig sehnsüchtigen Blick Richtung Bel sandte, die inmitten ihrer Blase fröhlich vor sich hin plapperte. Der Bursche mit den ärgerlichen Haaren und der bäuerlichen Jacke übertrieb es schamlos mit dem Lachen. Je öfter ich ihn zu Gesicht bekam, desto sicherer war ich mir, dass unsere Wege sich schon einmal gekreuzt hatten. Aber ich wusste nicht, woÉ«
»Was für ein Auflauf«, sagte Mirela. »Ist das nicht herrlich.«
»Mutter kennt eben jede Menge Leute«, pflichtete ich ihr lahm bei.
»Vor allem die richtigen Leute, von Zeitungen, Theatern, Kunstvereinen, Unternehmen. Und alle reden darüber, dass sie uns Geld geben wollen.« Ihr Lächeln war so rein und hypnotisierend wie ein Schmetterling, der auf eine Hand herabschwebte.
»Mmm.« In diesem Augenblick bemerkte ich, dass außer all den richtigen Leuten auch MacGillycuddy da war. Er saß mit einem hohen Glas an der Bar.
»Ich glaube, es kann wirklich funktionieren«, sagte Mirela. »Ich glaube, dass ein bedeutendes Theater daraus werden kann. Würdest du mich kurz entschuldigen, Charles? Ich muss mit dem Mann da reden, ich glaube, der ist vom Gate Theatre.«
»Sicher, sicher«, sagte ich und sah das Leuchten im Gesicht des distinguierten grauhaarigen Mannes, während sie auf ihn einredete.

I
ch blieb noch einen Augenblick und wartete, ob sie vielleicht zurückkäme. Als das nicht geschah, nahm ich ihren halb vollen Drink und machte mich auf zum anderen Ende der Bar, wo MacGillycuddy hockte. »Sie haben vielleicht Nerven, hier einfach so rumzulaufen«, sagte ich.
Er schaute mich mit großen Augen an. »Entschuldigung, kennen wir uns?«
»Scheiße, MacGillycuddy, spielen Sie keine Spielchen mit mir.«
Er runzelte verblüfft die Stirn und flüsterte dann ehrfürchtig: »C? Sind SieÕs wirklich?«
»O verdammt!« Ich hatte vergessen, was für eine verschlungene Erfahrung eine Unterhaltung mit MacGillycuddy sein konnte. »Sie wissen ganz genau, wer ich bin.«
»Ich hab gedacht, Sie sind hinter meinem Drink her«, sagte er mit neutraler Stimme und stupste das Glas in meine Richtung. »Trinken Sie, Charlie. Schließlich sind wir alte Freunde.«
»Sie sind nicht mein Freund«, sagte ich. »Was machen Sie überhaupt hier?«
»Ich bin eingeladen«, sagte MacGillycuddy indigniert. »Ich bin als Berater hier.«
»Was Sie nicht sagen? Da kann ich ja gleich Ihren Rat einholen, wenn Sie nichts dagegen haben? Was ich wissen will, ist Folgendes: Wie sehr haben Sie mich eigentlich beschissen?«
»Beschissen?«, sagte MacGillycuddy und setzte dabei eine Unschuldsmiene auf, die er dem Jesuskind in der Krippe abgeschaut haben könnte.
»Ich meine, als ich Sie angeheuert habe, um Frank zu beobachten, weil ich dachte, er klaut meine Möbel.«
»Und das hab ich getan«, sagte MacGillycuddy.
»Das haben Sie getan, exakt das ist der Punkt, weil Sie nämlich nicht nur die ganze Zeit schon gut bekannt mit ihm warenÉ«
»Gut bekannt würde ich das nicht nennen«, warf MacGillycuddy ein. »Wir haben uns zufällig ein paarmal im Pub getroffen, vielleicht haben wir auch die eine oder andere Partie Darts gespielt, aberÉ«
»Sie waren nicht nur gut bekannt mit Frank«, fuhr ich unbeirrt fort, »Sie haben auch über all die Leute im Turm Bescheid gewusst. Und Sie haben mich die Frank-Falle aufbauen lassen, obwohl Sie wissen mussten, dass wahrscheinlich die Leute aus dem Turm dahinter stecken.«
»Gewusst hab ich das nicht«, sagte MacGillycuddy. »Ich hatte so eine Ahnung, mehr nicht.«
»Ach, zum Henker mit Ihnen. Haben Sie nie daran gedacht, mir davon zu erzählen? Warum hätte ich Ihnen gutes Geld bezahlen sollen, damit Sie Frank eine Falle stellen, wenn Sie schon wussten, dass Frank es gar nicht war?
»Hören Sie«, sagte MacGillycuddy mit leicht tadelndem Unterton. »Ich hab nur getan, was Sie mir gesagt haben. Ein Luchsauge sieht verteufelt viele Sachen. Aber man muss ihm auch die richtigen Fragen stellen.«
Ich schlug fast einen Salto vor Wut. »Für ein Luchsauge gehen Sie ausgesprochen selektiv mit Ihren Informationen um, wissen Sie das?«
»Vielleicht hätten Sie statt eines Luchsauges ein Plappermaul engagieren sollen«, sagte er trocken.
»O verdammt«, sagte ich wieder, wandte mich von ihm ab und stützte mich mit den Ellbogen auf die Bar. Mirela hatte inzwischen einen kleinen Kreis um sich versammelt. Wie Motten, die die perfekte Flamme gefunden hatten, standen sorgfältig manikürte Theatermäzene und gutmütig-derbe Schauspielerveteranen idiotisch grinsend um sie herum. Mirela vertrat gestikulierend ihr Anliegen und verteilte ihr Lächeln demokratisch an alle Zuhörer. Drüben in einer Ecke standen ihre bärenhaften Brüder und amüsierten sich lautstark auf bosnisch. Sie spielten irgendein Spiel mit Münzen auf einer Papierserviette, die über ein volles Bierglas gespannt war. Gleichzeitig ächzte Bel unter einem Hustenanfall, der vorgetäuscht oder auch nicht vorgetäuscht sein mochte, jedenfalls gab er dem Menschen mit den geflochtenen Haaren und der bäuerlichen Jacke Gelegenheit, ihr den Rücken zu massieren. Und dann waren da noch die Damen und Herren der Gesellschaft: die Bankdirektoren mit ihren reizenden Frauen, die allseits bekannten Philanthropen, der übliche Künstlerklüngel, die hohen Tiere aus Wirtschaft und Regierung - Zeichentrickfiguren, die vage an Individuen erinnerten -, plus der allgegenwärtigen Entourage schleimender Schreiberlinge. Und als das Stimmengewirr plötzlich und Schwindel erregend anschwoll, da verspürte ich den brennenden Wunsch, einen von denen am Kragen zu packen und zu brüllen: Was ist hier eigentlich los? Ist das nicht mein Haus? Ist das da in der Ecke nicht der Steinway, auf dem ich in glücklicheren Tagen »Immer nur du« und »Holla, ist heutÕ schon Halloween?« komponiert habe? Und bin ich etwa nicht, unter all den Verbänden, immer noch Charles Hythloday?
Doch im selben Augenblick erspähte ich Mutter, die mit dem beunruhigend entschlossenen Gesichtsausdruck, den sie sich seit kurzem zugelegt hatte, auf mich zukam. Ich wusste sofort, dass es - wer immer ich nun war - hohe Zeit war, abzuhauen.
Ich war ruckartig aufgewacht, wie ein Pendler, der auf dem Heimweg im Zug eingedöst war. Bel saß neben meinem Bett, sie war in ein Buch vertieft. Ich hustete höflich.
»Charles!« Mit einem Schrei ließ sie das Buch fallen. »Gott sei Dank!« Sie sprang auf, beugte sich über mich und starrte mir in die Augen. »Erkennst du mich? Wie viele Finger halte ich hoch? Kannst du mich verstehen? Zwinker mit den Augen, wenn du mich verstehst.«
»Natürlich verstehe ich dich«, sagte ich. »Und hör bitte auf zu brüllen, mir gehtÕs gut.«

D
as war ein klein wenig übertrieben, denn mit jeder Sekunde erwachte ein weiterer Teil meines Körpers und heulte auf vor Schmerz. So sanft wie möglich drehte ich den Kopf auf die Seite und begutachtete meine Umgebung. Wir befanden uns in einem winzigen Raum mit erbsengrünen Wänden; der hässliche karierte Fenstervorhang war zugezogen. Um mich herum waren diverse Apparaturen gruppiert, deren unergründliche Skalen und Bildschirme meinen Zustand abbildeten. An einem Ständer neben dem Bett hing ein Tropf, von dem ein Schlauch zu meinem Arm führte. Vor mir an der Wand hing ein Poster mit Bäumen, durch deren Geäst die Sonne glitzerte. Die Bildunterschrift - Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens - jagte mir aus irgendeinem Grund einen kalten Schauer über den Rücken.
»Wie lange liege ich schon hier?«, fragte ich.
»Seit Wochen«, sagte Bel. »Seit vielen Wochen. Die Ärzte haben zwar gesagt, dass so eine Schockreaktion des Körpers ganz normal ist, aber allmählich haben wir uns doch Sorgen gemacht.« Sie zog ihren Stuhl näher ans Bett. »Du bist schon ein paarmal aufgewacht, kannst du dich daran erinnern? Du hast wirre Reden über Yeats gehalten und Gedichte rezitiert beziehungsweise gebrüllt.« Sie lächelte. »Vor allem das schwärmerische Zeug. Ich glaube, ein paar von den Schwestern haben sich in dich verknallt.«
»Dann zeigen sieÕs einem aber auf sehr komische Art«, sagte ich, eingedenk der unangenehmen Wendung meines Traums, und veränderte behutsam die Lage meines Hinterteils. »Warum fühlt sich mein Kopf so komisch an, Bel? Juckt irgendwie überall.«
»Ein Wasserspeier hat dich erwischt. Der Kopf ist noch ganz verbunden, als hätten sie dich gerade aus einer Pyramide rausgerollt.« Sie zögerte, dann bückte sie sich und kramte in ihrer Tasche herum. »HierÉ« Sie klappte den Taschenspiegel auf.
»O Gott.«
»Keine Angst, das wird wieder.«
»Bist du sicher, dass da drunter noch ein Gesicht ist?«
»Na klar. Das braucht einfach seine Zeit, bis es heilt. Es ist nichts gebrochen, nur ziemlich übel verschwollen. Du hast ganz schön Glück gehabt. Der Arzt hat uns alles erklärt. Sicher schaut er bald mal rein, jetzt, wo du aufgewacht bist.« Als unsere Blicke sich trafen, schaute sie weg und fing an mit einer Haarsträhne herumzuspielen. Sie kam mir plötzlich ziemlich merkwürdig vor.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 13.04.2006