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Tischler täuscht
Jugendämter

Mit falschem Zeugnis auf Kinderfang

Von Christian Althoff
Bielefeld (WB). Die beiden Mädchen aus Bielefeld, die in einer Pflegefamilie jahrelang missbraucht worden sein sollen, sind schwer traumatisiert. Das sagte am Freitag Evelyn Upmann-Stadler, Fachbereichsleiterin beim AWO-Bezirksverband Ostwestfalen-Lippe in Bielefeld.
Tischler Michael N. bestreitet den Missbrauch.

Wie am Freitag berichtet, hat die Staatsanwaltschaft Detmold Anklage gegen Tischler Michael N. aus Lemgo erhoben. Der 46-Jährige soll jahrelang seine beiden Pflegekinder sowie die Tochter seiner Lebensgefährtin missbraucht haben.
»Der Mann hat uns mit hoher krimineller Energie und Cleverness getäuscht«, sagte die Mitarbeiterin der Arbeiterwohlfahrt. Der AWO-Bezirksverband vermittelt im Auftrag der Jugendämter Pflegekinder an Familien in ganz Ostwestfalen-Lippe und betreut derzeit 34 Mädchen und Jungen.
Vor Jahren hatte sich der mutmaßlich pädophile Mann den Jugendämtern Lemgo und Bielefeld sowie der AWO als Pflegevater angeboten. »Er sagte, er sei Lehrer und wies auf seine besonderen pädagogischen Fähigkeiten hin«, sagte Evelyn Upmann-Stadler. Weder in den Jugendämtern noch bei der AWO habe jemand geahnt, dass die vorgelegten Zeugnisse gefälscht waren. »Der Mann nahm an den Pflichtseminaren für Pflegeeltern teil und machte durchaus einen engagierten Eindruck.«
Schließlich durften Michael N. und seine Lebensgefährtin zwei 1992 und 1995 geborene Mädchen aus Bielefeld aufnehmen, deren Mutter mit der Erziehung überfordert war und die ihre Zustimmung gegeben hatte. »Wie üblich haben unsere Mitarbeiterinnen die Pflegefamilie anfangs alle sechs Wochen besucht und sich viel Zeit für Gespräche genommen. Aber es gab nicht den geringsten Anhaltspunkt, dass die Kinder dort nicht gut aufgehoben sein könnten«, erklärte die AWO-Mitarbeiterin, die am Freitag noch einmal die Besuchsprotokolle überprüft hatte. »Der Mann hat sich einfach gut verkauft, der ist nicht dumm.«
Der mutmaßliche Missbrauch war erst bekanntgeworden, nachdem sich eines der Mädchen der Pflegemutter offenbart hatte.
Obwohl die Kinder, die heute wieder in Bielefeld leben, fachlich betreut worden sind, fürchtet Evelyn Upmann-Stadler, dass sie ihre Erlebnisse nie vergessen werden. »Wir haben uns natürlich auch gefragt, ob wir einen Fehler begangen haben. Aber gegen jemanden, der so planvoll vorgeht und gefälschte Urkunden vorlegt, ist man machtlos«, sagte die AWO-Mitarbeiterin.
Strafverteidiger Andreas Chlosta aus Bielefeld erklärte, er könne nicht nachvollziehen, dass der mutmaßliche Missbrauch so lange unentdeckt geblieben sein soll: »Wäre da tatsächlich etwas gewesen, hätten sich die Kinder doch den Mitarbeiterinnen des Jugendamtes anvertrauen können.«

Artikel vom 01.04.2006