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Vielleicht lag es an dem Mädchen und an dem seltsamen Zauber, den sie ausstrahlte, dass es mir plötzlich wünschenswerter erschien, unser Vermögen in die Luft fliegen als von der Bank an den Meistbietenden versteigert zu sehen. Wenn wir schon bankrott gingen, dann konnten wir das auch mit Stil erledigen. »Vergiss den Krempel«, sagte ich achselzuckend. »Uns bleibt immer noch Paris.«
Sie lachte und machte einen Schritt auf die Luke zu. Spontan nahm ich ihren Arm. »Ich weiß, es ist lächerlich«, sagte ich, »aber in ein paar Minuten fliegt das hier alles in die Luft, und vielleicht sehen wir uns danach nie wieder É Wenn es dir also nichts ausmacht, mir eine Frage zu beantworten: Warum nur habe ich das Gefühl, dass wir uns schon mal gesehen haben?«
»Wir müssen uns beeilen«, begann sie instinktiv, sprach dann aber nicht weiter und deutete hinter sich zu den Schlafsäcken. »Wenn du da hinten aufs Bücherregal steigst, kannst du die Plane losmachen und dich über die Brüstung nach draußen lehnen. Man fühlt sich ein bisschen, als ob man fliegt. Besonders wenn der Wind pfeift.«
»Dann É dann bist du der Engel«, rief ich aus. »Du hast mir immer zugewinkt!«
»Du hast gedacht, ich bin ein Engel?«
»Nun ja É ganz sicher war ich mir nichtÉ«
»Ich glaube, du warst nie nüchtern.«
»Nun jaÉ«
»Du hast immer so durcheinander ausgesehen!« Sie lachte wieder, und nun war sie es, die meinen Arm nahm. »Charles, was passiert jetzt mit uns? Wird deine Mutter uns der Polizei übergeben?«
»Natürlich nicht«, sagte ich aufrichtig. »Daran würde sie nicht mal im Traum denken. Wir reden mit ihr, keine Sorge. Wir finden schon eine Lösung.«
Das schien sie zu beruhigen. Sie nickte und ließ meine Hand los, schaute mir in die Augen und sagte leise: »Charles, was hast du da in der Hose?«
Da ich Vaters Porträt ganz vergessen hatte, brachte mich diese Bemerkung zugegebenermaßen etwas aus der Fassung, und unser Abmarsch hätte auf fatale Weise in Verzug geraten können, wäre nicht in der selben Sekunde ein rot angelaufenes, aufgeregtes Gesicht in der Luke aufgetaucht.
»Sieh an, sieh an«, sagte ich und war blitzartig wieder in der Realität. »Wenn das nicht die Ratte ist, die einen letzten Blick auf das sinkende Schiff wirft.«
»Sind Sie wahnsinnig?«, kreischte MacGillycuddy. »Die Bombe! Was stehen Sie da rum und quatschen?«
»Schon gut, schon gut.« Er verschwand wieder, und ich geleitete das Mädchen vor mir her - und da war es wieder, dieses Klopfgeräusch.
»Habt ihr Mäuse hier oben? Sehr große Mäuse?«
An der Kante der Luke blieb sie kurz stehen, als wolle sie sich über etwas klar werden. »Nein, keine Mäuse«, sagte sie.
»Was dann?«

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ie wandte sich halb zu mir um; ihr kobaltblauer Blick bohrte sich in meine Augen, dann zog sie den Rock hoch. Erst dachte ich, sie wolle einen Knicks machen, doch dann sah ich, dass anders als das rechte Bein, das braun gebrannt und kräftig war, das linke direkt unterhalb des Knies endete. Grobe Stahlbänder verbanden den Stumpf mit einer klobig wirkenden Prothese.
»OhÉ«
»Noch was, das ich im Laufe der Jahre mitgekriegt habe«, sagte sie. »Eine Bombe. Oder eine Mine. Kann mich nicht erinnern. Ich bin aufgewacht und hab das da gesehen.«
»Tut mir Leid«, sagte ich schwach. Aber da kletterte sie schon hastig die Stufen hinunter. Ich stieg schnell hinter ihr her, drückte mich an dem Klavier vorbei und stand unten an der Türöffnung Frank gegenüber.
»Alles paletti?«, sagte Frank.
»Hier rüber! Schnell!« MacGillycuddy kauerte hinter einem Dickicht aus Büschen und jungen Bäumen und winkte uns zu. Die Angst und Dringlichkeit, die bis jetzt noch in uns geschlummert hatten, erwachten plötzlich. Das Mädchen klammerte sich an meinen Arm, und gemeinsam hasteten wir über den Rasen. Der Himmel hatte sich verdunkelt, der Wind war stärker geworden. Er riss an ihren Haaren und grabschte nach meinen Wangen wie ein riesiger, unförmiger Säugling. Wir warfen uns neben MacGillycuddy auf den Boden.
»Sind wir hier sicher?« Ihre Brust hob und senkte sich heftig, während sie nach Luft schnappte.
»Keine Angst, wennÕs ums Abhauen geht, sind wir bei MacGillycuddy richtig. Hab ich Recht, MacGillycuddy?«
Er tat so, als hätte er mich nicht gehört, und wandte sich an das Mädchen. »Ich hab Sie hoffentlich nicht erschreckt, als ich so laut geschrien hab«, sagte er mit serviler Stimme. »Ich war etwas überrascht, dass Sie noch da oben waren. Ich hab gedacht, Sie wären schon lange weg.«
»Moment mal«, sagte sie, wobei ihre Augen blitzten. »Wie lange wissen Sie schon, dass da eine Bombe versteckt ist?«
»Nun ja, ich hab sie selbst da platziert. Haben Sie meine Nachricht nicht gelesen?«
»Das waren Sie? Sie haben die Bombe im Turm versteckt?« Ihre Stimme wurde schriller, sie fuhr MacGillycuddy mit ziemlich beängstigender Wildheit an. »Und, hatten Sie vor, mir Bescheid zu sagen?«
»Ich hab Ihnen Bescheid gesagt«, verteidigte sich MacGillycuddy, der den Kopf einzog, als sie sich drohend über ihn beugte. »Ich hab überall Post-its hingeklebt, die waren ziemlich deutlich. ÝAchtung, bombe!Ü und ÝHauen Sie ab, explosion um 2.00 Uhr nachts!Ü. Ich versteh nicht, wie Sie die übersehen konnten.«
»Post-its?« Die funkelnden Augen schauten jetzt mich an.
»Das sind so selbstklebende Notizzettel«, sagte ich. »Was anderes, MacGillycuddy É Sie kennen das Mädchen?«
»Nicht intim«, sagte MacGillycuddy großmäulig.
»Ich meinte, ob Sie wussten, dass Mrs Ps Kinder in dem Turm waren?«
»Er hat meiner Mutter Briefe gebracht.« Das Mädchen war drauf und dran, ihn in Stücke zu reißen. »Von uns. Heimlich. Und als wir dann hierher gekommen sind, da hat er für meine Brüder falsche Papiere besorgt, für Geld.«
»Tja also, um Ihre Frage zu beantwortenÉ«
»Ach, halten Sie doch Ihr Maul!« Die Erkenntnis seines Doppelspiels brodelte wie heißer Dampf zwischen meinen Ohren. »Ich meine, als ich zu Ihnen gekommen bin und Ihnen erzählt habe, dass jemand Möbel aus dem Haus schafft, daÉ«

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acGillycuddy sah nun entschieden wie ein in die Enge getriebenes Tier aus. »Ich frage mich, wie Frank vorankommt«, sagte er hastig, stand auf und schaute angestrengt in die Dunkelheit.
»Wechseln Sie nicht das Thema É äh, was macht Frank eigentlich hier?«
»Er meint, dass er die Bombe entschärfen kann«, sagte er. »Ich musste ihnen alles sagen, Charlie, ich wusste ja nicht, was mit Ihnen war.«
»Also deshalb hatten Sie sich oben unter dem Bett versteckt«, sagte ich. »Was anderes, warum entschärfen Sie die Bombe eigentlich nicht?Schließlich war es Ihre Idee, meinen Plan zu ruinieren. Außerdem ist das Ihre Scheißbombe.«
MacGillycuddy bohrte mit dem kleinen Finger in seinem Ohr. »Ist eine Sache, das Ding zu bauen«, sagte er und inspizierte das Ergebnis seiner Bohrung. »Es wieder abzuschalten, ist eine völlig andere Geschichte.« Er legte die Hand an den Mund und brüllte: »Hab ich Recht, Francy?«
Frank war ein undeutlicher Schatten am Fuß des Turms. Er unterbrach, was er gerade tat, und rief: »Was?«
»Wie läuftÕs mit der Bombe?«
Frank beugte den Kopf nach unten. »Noch gut zwei Minuten«, brüllte er. »Passt auf, dass ihr nicht zu nah an den Fenstern seid.«
»O Gott, er wird sterben!« Das Mädchen fuhr sich mit schlanken weißen Fingern von oben nach unten über das Gesicht.
»Ach was. Der Junge war bei der UN. Der hat das schon tausendmal gemacht.« Er legte wieder die Hand an den Mund. »Hab ich Recht, Francy?«
»Was?« Frank unterbrach wieder seine Arbeit und drehte den Kopf in unsere Richtung.
»Ich hab grad zu Charlie gesagt, dass du das schon tausendmal gemacht hast.«
»Entschärf einfach die Bombe«, schrie ich.
»Ist wie Fahrrad fahren, hab ich Recht, Francy? Wenn manÕs einmal gelernt hat, kann manÕs immer.«
Frank schien darüber nachzudenken. Zwischen seinen Zähnen steckte etwas, das wie ein Stück Draht aussah.
»Ist eigentlich so, wie wenn man einen BH aufmacht«, rief er. »Man weiß, wieÕs geht, und man hatÕs schon tausendmal gemacht, aber wenn dann die Alte hinten im Wagen vor dir liegt, dannÉ«
»Herrgott, MacGillycuddy, hören Sie auf, ihn abzulenken!«
»Runter, Charles!« Das Mädchen packte mein Bein und zerrte daran.
MacGillycuddy schaute auf seine Uhr. »Schätze, noch acht Sekunden«, sagte er. »Fünf É vierÉ«
Wir warfen uns auf den Boden.
Eine Wolke schob sich vor den Mond.
»Bingo«, rief Frank.
»Na also«, sagte MacGillycuddy.
Langsam standen wir wieder auf.
Der Turm stand unversehrt da.

D
as Mädchen und ich schauten uns an. Wir fingen an zu lachen, wie Idioten, glücklich. Auch Frank lachte. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 07.04.2006