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Bei Hüft-OP Nervenstrang durchtrennt

Rentnerin Helene R. kann ihren linken Fuß nicht mehr benutzen - Klage gegen Klinik

Von Christian Althoff
Bielefeld (WB). Ein neues Hüftgelenk sollte Helene R. (72) die Ausflüge und Spaziergänge ermöglichen, die sie seit Jahren vermisst hatte. Doch dann durchtrennte ein Arzt bei der Operation den Ischiasnerv der Bielefelderin. Sie hat seitdem kein Gefühl mehr im rechten Unterschenkel, leidet unter Schmerzen und ist auf einen Gehstock angewiesen.
Nur diese Metallschiene hält den Fuß waagerecht. Patientenanwältin Heike Eimertenbrink klagt
180 000 künstliche Hüftgelenke werden jährlich in Deutschland eingesetzt. Auch Helene R. hatte sich davon neue Lebensqualität versprochen: »Meine Hüfte war so verschlissen, dass ich es nur unter größten Schmerzen bis zu unserem Auto schaffte. An Spaziergänge, die mein Mann und ich so gerne unternommen hatten, war überhaupt nicht zu denken.«
2002 hatten Ärzte der Bielefelder Krankenanstalten Gilead der Frau bereits auf der rechten Seite ein neues Gelenk implantiert. »Weil das wunderbar geklappt hatte, war es für mich keine Frage, mir im Februar 2003 auch die linke Hüfte operieren zu lassen.« Doch als Helene R. nach der OP aus der Narkose erwachte, konnte sie ihren linken Fuß und dessen Zehen nicht mehr bewegen. »Ich fragte den Chirurgen, ob das normal sei. Er schüttelte den Kopf und meinte, da sei wohl der Ischiasnerv durchtrennt worden.« Zwei Tage später nähte ein Arzt in einer erneuten OP den Nerv wieder zusammen - ohne Erfolg.
Ehemann Heinz R. (77): »Menschlich hat uns enttäuscht, dass der Chirurg meiner Frau in diesen schweren Tagen aus dem Weg gegangen und nicht mehr zur Visite gekommen ist. Er sagte ihr lediglich, sie habe ja vorher gewusst, dass Nerven beschädigt werden könnten.« Mit dieser Erklärung wollte sich Heinz R. aber nicht zufrieden geben. Er wandte sich an die AOK, die ein fachärztliches Gutachten anfertigen ließ. Patientenanwältin Heike Eimertenbrink aus Bielefeld: »In der Expertise heißt es, dass eine vollständige Durchtrennung des immerhin daumendicken Ischiasnerves bei Wahrung der Sorgfaltspflicht vermeidbar gewesen wäre. Damit ist der schwere Dauerschaden der Patientin auf einen ärztlichen Fehler zurückzuführen.« Trotzdem habe die Haftpflichtversicherung des Chirurgen eine außergerichtliche Einigung mit der Patientin verweigert. »Deshalb habe ich jetzt Klage beim Landgericht eingereicht. Wir fordern ein angemessenen Schmerzensgeld und eine monatliche Rente.« Klinik-Sprecher Jens-Uwe Garlichs sagte, er könne wegen des laufenden Verfahrens keine Stellung nehmen. »Dass es der Patientin schlecht geht, tut uns leid. Ob tatsächlich ein Verschulden der Ärzte vorliegt, müssen erst Gutachter und Richter klären.«
Elektroschockbehandlung, Akupunktur, Bewegungstherapie - in den nunmehr drei Jahren nach der Operation hat Helene R. vieles versucht, um die Funktion ihres linken Fußes wiederherzustellen. »Aber alles war vergebens.« Der Fuß hängt heute gefühllos nach unten. Ein Metallwinkel, der mit Klettband am Unterschenkel befestigt wird, hebt den Fuß in eine natürliche Position - damit die Rentnerin nicht an jeder Teppichkante hängenbleibt und stürzt.
Helene R. bewegt sich nur noch mit einem Gehstock oder nutzt den Kinderwagen ihrer 18 Monate alten Enkelin als Stütze, wenn sie sich aus dem Haus wagt. »Wenn meine Tochter Stefanie mir nicht im Haushalt helfen würde - ich käme überhaupt nicht mehr zurecht«, erzählt die 72-Jährige. »Es ist ja nicht nur die körperliche Behinderung, die mir zu schaffen macht, sondern es sind auch die Schmerzen, die seit Jahren nicht aufhören.« Schon mehrfach habe sie versucht, die tägliche Tablettendosis zu reduzieren, aber dann seien die Beschwerden sofort unerträglich. Außerdem leide sie darunter, dass ihr linker Unterschenkel immer wieder unkontrolliert nach oben schnelle, erzählt die Bielefelderin. »Nachts passiert das sogar so oft, dass ich davon aufwache«, sagt der Ehemann.
Eine Rechtsschutzversicherung hat das Paar nicht, trotzdem wagt es den Prozess gegen die Klinik. »Man darf sich nicht alles gefallen lassen«, sagt Heinz R. »Trotz unseres hohen Alters hatten wir noch viel vor. Wir wollten so gerne an Busreisen teilnehmen, wie wir es früher gemacht haben, aber das ist jetzt alles nicht mehr möglich.«
An manchem Abend, wenn Helene R. im Bett liegt und in ihrem ansonsten gefühllosen Unterschenkel Schmerzen verspürt, muss sie daran denken, dass ihre Hüft-OP eigentlich einen Tag vorher hätte stattfinden sollen. »Aber eine Schwester hatte mir und einer anderen Patientin versehentlich zu essen gegeben.« Der Chirurg sei damals außer sich gewesen: »Er sagte: Jetzt stehen zwei OPs leer, und ich habe einen Schaden von 12 000 Euro!«, erzählt die Rentnerin und fährt fort: »Er meinte damals noch: Jetzt muss ich bei jeder Operation zehn Minuten herausholen, um auf meine Kosten zu kommen. Heute frage ich mich, ob der Arzt das vielleicht ernst gemeint hatte.«

Artikel vom 01.04.2006