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Er stand auf und ging auf uns zu. Hinter uns im Haus gingen geräuschlos die Lampen wieder an. Licht überflutete den Rasen und tauchte nach Stunden der Dunkelheit alles in einen ekstatischen, disneymäßigen Glanz. Wir standen auf dem Rasen, lachten und klopften Frank auf die Schulter. »Du hast es gepackt!«, erklärte MacGillycuddy.

K
ostet dich Õn Bier«, sagte Frank. Er lächelte, und man konnte seine schiefen Zähne sehen. Und obwohl mir irgendwas an dem Wortwechsel komisch vorkam, dachte ich nicht weiter drüber nach und fiel in die Gratulationscour ein. Dann marschierten wir wie siegreiche Soldaten nach einem langen und blutigen Krieg zurück zum Haus. Am Fenster im Salon standen Mrs P und Bel. Meine Schwester sah übernächtigt und blass aus. Unsere Blicke begegneten sich. Als ich gerade das V-Zeichen machen wollte, schaute sie weg.
Egal, sagte ich mir, obwohl absolut nichts an diesem Abend nach Plan gelaufen war, schien sich doch alles zum Besten gewendet zu haben. Der Turm stand noch - was sicher bedeutete, dass auch wir die Oberhand behalten würden, nicht nur über die gegen uns in Stellung gebrachten Mächte, sondern auch über unsere eigenen fehlgeleiteten Wünsche, unsere eigenen besten Absichten. Ob ihr das passte oder nicht, Bel war Teil dieser Familie. Wohin auch immer das Leben uns verschlagen würde, auf Dauer konnte ich nicht ohne sie.

D
as waren meine Gedanken, als Frank direkt vor meiner Nase stehen blieb und nach oben zum Himmel deutete. »Schau dir bloß diesen komischen Vogel an«, sagte er abwesend.

J
a, ja«, sagte ich und folgte mit zusammengekniffenen Augen seinem Flug.
Doch bevor ich ihm noch sagen konnte, dass das da oben, wenn ich es mir recht überlegte, weniger wie ein Vogel denn wie ein Felsbrocken oder so was aussah, brach schon ein ohrenbetäubender Lärm über uns herein, und ich schaffte es gerade noch, mich umzudrehen und zu erkennen, dass aus irgendeinem Grund der Turm nicht mehr da stand, wo er vorher gestanden hatteÉ

Fünf
Das Erste, was mich traf - das Erste nach jenem fliegenden Stück Mauerwerk -, war die Erkenntnis, dass mein Plan geklappt hatte. Eine Zeit lang nach der Explosion des Turms stand ich nämlich unter dem Eindruck, dass ich tatsächlich in einer bezaubernden historischen Hazienda in Chile residierte - und zwar zusammen mit dem Dichter und Nobelpreisträger W.B.Yeats. Es klingt unwahrscheinlich, wenn ich das so sage, ich weiß, aber so sind Träume, solange man sie träumt, weiß man nicht, dass es Träume sind. Außerdem fühlten wir uns, Yeats und ich, ziemlich wohl dort - warum also dran rühren? Wir lebten auf der windgeschützten Seite der Anden, an einer Flanke des Casablanca-Tales. Im Osten lag Santiago, im Westen der Pazifische Ozean, dessen blassblaue Linie ich jenseits der Weinberge von der Veranda aus sehen konnte.

E
s war Sommeranfang, die Tage waren lang, und das ganze Tal strotzte vor Farbe und Leben. Manchmal wurde es so heiß, dass ich zu ersticken glaubte; die Luft fühlte sich an wie eine dicke Decke, die man mir um den Kopf geschlungen hatte, und meine Muskeln schmerzten, als steckten sie im Schraubstock. Doch diese Leidensphasen hielten nie lange an, und wenn die Hitze sich verflüchtigte, ging ich in den Garten hinter dem Haus und spazierte zufrieden zwischen Bienen und blühendem Hibiskus umher. In einem ätherisch duftenden Winkel wuchsen Zitronenbäume. Yeats pflückte die Früchte und machte daraus Gimlets, die mit nichts vergleichbar waren, was ich je getrunken hatte - so frisch, herb und kalt, dass mir der Atem stockte, wie bei einem Sprung ins eisige Meer.

D
ie Tage gingen friedlich und gleichförmig dahin. Ich hatte schließlich doch noch die Arbeit an meiner Gene-Tierney-Monografie aufgenommen und verwandte darauf den Großteil meiner Zeit. Üblicherweise stand ich am späten Vormittag auf und setzte mich nach einem leichten Frühstück und einer Tasse Bergkaffee an den Schreibtisch. Während Yeats seinen häuslichen Pflichten nachging, schrieb ich, füllte ohne Pause Seite um Seite und labte mich an dem Gefühl, Gene so zum Leben erwecken zu können. Ich spürte ihre Dankbarkeit und Erleichterung, dass sie nach Dekaden des Geisterdaseins wieder atmen durfte.

G
egen Abend schickte ich Yeats ins Tal, um aus der Bodega vom einheimischen Wein zu holen. Ich selbst vergnügte mich mit einem Kreuzworträtsel, bis er - eine spindeldürre Gestalt mit weißem Haarschopf - wieder den Feldweg heraufkam. Ich half ihm bei der Zubereitung des Abendessens, und nach dem Essen saßen wir zusammen auf der Veranda, unterhielten uns und beobachteten, wie die Nacht hereinbrach. Die Sonnenuntergänge waren wie italienische Opern, sie zogen sich glühend und gefühlsschwer über drei Stunden hin und hingen im Himmel wie brennende Burgen. Yeats konnte bisweilen bärbeißig werden - wir schrieben die Dreißiger, und er war nicht mehr der Jüngste, aber er war ein exzellenter Koch und gewissenhafter Wirtschafter, und wir hatten doch ziemlich viel gemein. Zum einen hatten wir beide einen steinernen Turm im Park. Der von Yeats in County Galway hieß Thoor Ballylee und war ursprünglich von den Normannen erbaut worden, später aber verfallen.Wie ich hatte auch er beträchtlichen Ärger mit den Bauarbeitern gehabt, die ihn wieder hatten herstellen sollen.
»Hatten die ein soziales Bewusstsein?«, fragte ich ihn. »Haben die auch dauernd gestreikt?«
»Keine Ahnung, ob die ein soziales Bewusstsein hatten«, sagte er. »Ich weiß nur, dass es Leute aus dem Ort waren, die alle winzige, kränkliche Arme hatten, und immer wenn ihnen nach einer Pause war, dann haben sie gesagt, sie müssten jetzt gehen, damit ihre Ärmchen wieder zu Kräften kommen. Die Lieblingsausrede war die Ernte, sie müssten die Ernte einbringen - im Januar, wohlgemerkt, oder Mitte Juni. Die müssen mich für einen Volltrottel gehalten haben. Oder Mäuse, alle behaupteten, sie hätten schreckliche Angst vor Mäusen. Der Vorarbeiter - wie hieß der noch gleich? - Raferty, der hat dauernd endlos lange Briefe an meine Frau geschrieben. ÝLiebe Mrs Yates, ich weiß, dass ich letztes Mal gesagt habe, dass der Verputz bis Herbst drauf ist, aber es geht so furchtbar langsam vorwärts wegen den Mäusen. Dauernd das Kratzen und Quieken, meine Leute machen kein Auge zu die ganze Nacht. Ich hoffe, dass Mr Yates die Mausefallen bestellt hat und dass die bald ankommen. Auch mit dem Dach gehtÕs nur schrecklich langsam vorwärtsÉÜ« Er seufzte. »Trotzdem, es war die Sache wert. Schließlich braucht ein Mann seinen Turm im Park.«
»Ein wahres Wort«, sagte ich und verspürte einen Stich Wehmut.(wird fortgesetzt)

Artikel vom 08.04.2006