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Und dann - gerade als ich mich zitternd zwischen Bel und der Tür aufbaute und Frank mit Mrs Ps schwerstem Waffeleisen aus der Küche stürzte - verstummte der Lärm. Wie im luftleeren Raum standen wir in der Stille und blinzelten uns an, als wären wir gerade aus dem Schlaf erwacht. Dann hörten wir von draußen einen Schrei und dann noch einen, dann ein Stöhnen und ein Knacken, das nach Schmerzen klang. Wir rannten zum Fenster im Salon. Auf dem Rasen wurden fünf Männer in Polyestertrainingsanzügen durch die Luft geschleudert, und zwar von genau den beiden riesigen Schattengestalten, denen MacGillycuddy und ich erst von wenigen Augenblicken nachgejagt waren.
»Wow!«

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er Anblick war faszinierend wie ein Ballett. Die beiden standen sich in etwa fünf Metern Abstand gegenüber, warfen sich die Wichser abwechselnd mühelos zu, fingen sie auf und setzten sie sanft auf dem Boden ab. Ihre Bewegungen war so perfekt aufeinander abgestimmt, dass sich immer einer der fünf in der Luft befand. Die Wichser fluchten und jaulten. Im Flug wirkten ihre Gesichter alles andere als bedrohlich, wie Karikaturen.
»Die tun ihnen ja gar nicht richtig weh«, sagte Frank, der das Waffeleisen unglücklich in der erhobenen Hand hielt.
Ab und zu rappelte sich einer der Wichser auf und ging auf eine der Schattengestalten los. Und jedesmal - obwohl man nicht genau erkennen konnte, wie das vonstatten ging - wurde der Angreifer zurückgeschlagen, ohne dem Attackierten auch nur eine Beule beibringen zu können. Wie Jongleure aus einem russischen Zirkus, die ihre Kegel hin und her wirbelten, warfen sich die beiden Kolosse die Eindringlinge fünf Minuten lang zu und ließen dabei auch noch ihre sonoren Stimmen erklingen. »Tatsächlich, die singen.«
»Wer ist das bloß?«, flüsterte Bel.
»Wesen«, sagte ich heiser.
»Was soll das heißen, Wesen?«
»Na ja, übernatürliche Wesen halt.«
»Herrgott, Charles, bitte!«
»Ich weiß, das hört sich verrückt an, aber wenn du die vorhin gesehen hättest, Bel, die sind im Laufschritt mit dem Klavier unterwegs gewesen - im Laufschritt, wohlgemerkt.« Ich wollte ihr auch noch von meiner Vision berichten, als ich sie mitten in der Nacht von meinem Schlafzimmerfenster aus gesehen hatte, da rief Laura mit trauriger Stimme: »Sie verschwinden wieder!«

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lar, dass die Wichser sich die Einfahrt hinunter aus dem Staub machten. Fairerweise musste man sagen, dass sie sich wacker, wenn auch vergeblich, gegen die beiden Ungetüme geschlagen hatten. Nach vollbrachter Arbeit klopften sich unsere Retter den Staub vom Leib und liefen mit federnden Schritten in entgegengesetzter Richtung davon. Die Runde am Fenster verabschiedete sie mit frenetischem Beifall - ausgenommen Frank, der vor sich hinbrummte, dass es gar nicht so schwer sei, jemanden herumzuwerfen, man müsse nur wissen, wie man ihn anpacke.
»Glaubst du wirklich, dass das Übernatürliche waren?«
»Das ist doch gar keine Frage. Welches menschliche Wesen ist schon so groß?«
»Red doch keinen Unsinn«, blaffte Bel. »Hör nicht auf ihn, Laura.«
»Hast du schon mal versucht, einen Steinway hochzuheben?«
»He!« Laura presste die Nase gegen die Scheibe. »Ist das nicht eure Haushälterin?«

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ie an ihrem weißen Nachthemd eindeutig zu identifizierende Mrs P eilte über den Rasen in die gleiche Richtung, in die sich unsere hilfreichen Geister zurückgezogen hatten. Dafür, dass sie schlafwandelte, was ich im ersten Moment annahm, sah sie ziemlich wach aus. Es hatte sogar den Anschein, als schimpfte sie die beiden aus. Sie drohte mit dem Finger und schien sie ziemlich scharf anzugehen. Allerdings konnte ich nicht verstehen, was sie sagte.
»Das ist doch grotesk«, sagte Bel, drehte sich auf dem Absatz um und marschierte zur Tür hinaus. »Ich werde der Sache jetzt auf den Grund gehen.«
»Ich verstehe jetzt, was du meinst«, sagte Laura zu mir.
»Was?«, sagte ich.
»Na ja, was du gesagt hast, dass es interessant ist, in so einem Haus zu leben.«
»Keine Sekunde langweilig«, sagte Frank und klopfte mir kernig auf die Schulter, »wenn Charlie und ich richtig die Sau raus lassen, was, Charlie?«
»Äh, ja, sicher, sicherÉ« Ein schlurfendes Geräusch über meinem Kopf lenkte mich ab. Mir fiel ein, dass MacGillycuddy sich immer noch irgendwo im Haus herumtrieb. Und dann fiel mir ein, dass ich die Bombe vergessen hatte und dass sie in Kürze hochgehen würde. Ich wusste nicht recht, wie ich bei all dem Trubel meinen Abgang bewerkstelligen sollte. Der Überfluss an Ereignissen hatte mich etwas angegriffen; außerdem war mir ein klein wenig übel, als hätte ich zu viel Kuchen gegessen. Aber es sollte noch mehr kommen. Ich hörte Schritte auf den Stufen, und im nächsten Augenblick betrat mit triumphal leuchtendem Gesicht Bel mit den beiden Schattengestalten im Schlepptau den Salon.
»Darf ich vorstellen«, verkündete sie. »Vuk und É Was haben Sie noch gleich gesagt, wie heißt er?«
»Zoran.« Mrs P bildete die kopfschüttelnde Nachhut.
»Hallo«, sagte einer der beiden versuchsweise, während Bel ihn zu einem Sessel führte. Sein Gefährte hockte sich auf die Armlehne. »Wir nicht sprechen Englisch«, erklärte er nach kurzer Bedenkzeit.
»Da seht ihrÕs, nichts Übernatürliches, nicht der Hauch.«

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s stimmte, aus der Nähe sah der Familienzuwachs menschlich aus. Obendrein war er auch noch ganz sympathisch, wenn auch beunruhigend groß. Beide waren durchtrainiert, dunkelhäutig und hatten buschige, gewölbte Augenbrauen. Einer (Vuk?) sah bemerkenswert gut aus; er hatte lange wuschelige Haare und sehr weiße Zähne; der andere (demnach Zoran) hatte einen runden Schädel und machte einen sanften, duldsamen Eindruck. Wie sie so dasaßen und unvoreingenommen ihre Umgebung betrachteten, schienen sie sich recht wohl zu fühlen. Mrs P hingegen starrte niedergeschlagen ihre Füße an - wie ein Schulmädchen, dass man bei der Mathearbeit beim Spicken erwischt hatte.
»Nun, das ist ja alles sehr schön«, sagte ich. »Nur irgendwie ist mir immer noch nicht ganz klar, wer genau die beiden eigentlichÉ«
»Das sind meine Söhne«, sagte Mrs P und zupfte verzagt an den Ärmeln ihres Nachhemds herum.
»Ihre Söhne?«
»Wow!«
»Ja. Sie verstecken sich im Turm, seit drei Monaten.«
»Im Turm?«
»Charles, hör auf, alles zu wiederholen.«
»Õtschuldigung.« Ich sackte auf dem Fenstersims zusammen. Ich hörte undeutlich, dass Laura fragte, ob jemand Tee wolle. Dann verschwamm für einige Augenblicke der Raum vor meinen Augen. Mrs Ps Söhne! Versteckt im Turm! Plötzlich ergaben eine Menge Dinge einen Sinn - die Gespenstervisionen, die geheimnisvollen Frühstücke, die Unterhosen und die gigantischen Lebensmittelrechnungen, die ziellosen Wanderungen, die Briefe unter der Küchenspüle, die verschwundenen Haushaltsgegenstände, Edelsteine und Kunstwerke im Wert von mehreren tausend Pfund. Dann nahm ich den Disput wieder auf und fragte in ernstem Ton: »Mrs P, was haben Sie damit bezweckt, Ihre Söhne im Turm zu verstecken?«
Mrs P stapfte schwerfällig zum Kamin, den sie am Nachmittag angeschürt hatte, und stocherte ein paar glühende Kohlen aus der Asche.
»Nun?«, sagte ich.
»Hör auf, sie zu piesacken, Charles.«
»Master Charles hat Recht«, sagte sie ergeben. »Meine Söhne sind Dummköpfe.Sie wollen mir helfen, und jetzt Sie haben herausgefunden, und ich muss alles erzählen.«
»Fangen wir damit an, was sie mit meinem Klavier wollten.«
»Bitte, Master Charles. Jetzt, wo Sie alles wissen, ich verliere vielleicht Arbeit, und Sie mich wegschicken. Das ist Ihre Entscheidung. Trotzdem ich bin sehr glücklich, dass wir alle vier sind zusammen. Aber Sie müssen hören die ganze Geschichte, von Anfang an.« Sie seufzte, als wäre sie am Ende einer langen, beschwerlichen Reise angekommen und wüsste, dass sie nie wieder zu einer aufbrechen würde.

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aura kam mit einem Tablett voller Teetassen herein und bot reihum mit ohrenbetäubendem Bühnenflüstern - »Tee? É Tee?«- jedem eine Tasse an. »Schon als der Krieg anfängt«, sagte Mrs P, »war die Familie getrennt. Die Jungen waren in Belgrad und wir in der Krajina. Und dann, im KriegÉ« Sie machte eine Handbewegung, als ließe sie etwas auf den Boden fallen. »Éist nur noch Chaos. Freunde, Familie, alle sind woanders, an tausend verschiedenen Orten. Die Männer, die uns beschützen, müssen fliehen. Es wird sehr gefährlich, und wir müssen auch fliehen. Ich weiß nicht, wo meine Kinder sind. Tot oder lebendig, ich weiß nicht.« In einer einzigen schnellen Bewegung fuhren ihre Hände in die Höhe und fielen wieder herunter.
»Warum haben Sie uns nichts davon erzählt?«, fragte Bel und strich ihr über den Arm. »Wir hätten Ihnen vielleicht helfen können. Mutter kennt viele LeuteÉ«
»Weil es nicht aufhört.« Verzweifelt fuhr sich Mrs P mit der Hand über die Augen. »Es war nicht vorbei. Wenn man nichts weiß, das ist wie harter Knoten in mir. Ich klammere mich daran, ganz fest. Ich komme hierher, ich finde Arbeit, ich warte. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 05.04.2006