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Meine Fingerspitzen berührten schweißnass die Fensterbank, und ich fragte mich, ob ich den Verstand verlor.
»Huu-huu!«, erscholl eine Stimme in der Nacht.
Was war das? Ich schaute hinaus, sah aber niemanden.
»Huu-huu! Charlie! Hier unten!«
Ich beugte mich vor. Frank stand direkt unter meinem Fenster.
»Alles paletti?«
»Ach, da bist du É ja, ja, bestens.« Wie ein kränkelnder Monarch ließ ich matt meine Hand kreisen.
»Du siehst ziemlich fertig aus, Charlie. Hast du gekotzt?«
»Nein, nein, alles okay É nur ein wenig übernächtigt.« Was machte er da draußen? Müsste er nicht drin sein, um seinen Raubzug zu vollenden?
»Ich hab ein Geräusch gehört, also bin ich raus, um nachzuschauen. Schau dir an, was ich gefunden hab, in den Büschen!« Neben dem Mond seines mir zugewandten Gesichts tauchte ein Satellit auf: Mrs P - mit einem Gesicht, das definitiv noch schlafwandelte. Während der vermaledeiten Verfolgung von Laura hatte ich sie vollkommen vergessen. »Ah, richtig«, sagte ich einfältig. »Jetzt fälltÕs mir wieder ein, sie ist früher schon mal, äh, rumgewandert.«
»Sie ist zwischen den Büschen rumgerannt, als wär sie nicht ganz richtig in der Birne. Glaub nicht, dass sie weiß, was sie grade tut.«
»Schaff sie ins Haus, sei so gut.«
Wie sich Mrs P dazu äußerte, konnte ich hier oben im ersten Stock nicht verstehen.
»Sie sagt dauernd das Gleiche. Wer ist Mirela, Charlie?«
»Keine Ahnung. Bring sie einfachÉ«
»Moment.« Eine Tür öffnete sich, und ein zittriger Lichtstrahl fiel auf den Rasen.
»Ich suche das Badezimmer«, sagte Laura.
»Frag Charlie, der weiß sicher, wo es ist.« Er zeigte zu mir nach oben.
»Hallo, Charles!« Sie winkte.
»Ja, ja, hallo«, sagte ich knapp und fragte mich, wie lange diese Pantomime noch so weitergehen würde. »Ich glaube, du warst schon im Badezimmer. Denk mal genauÉ«
»Ist es nicht schön hier draußen?« Sie hatte ihre Aufmerksamkeit wieder Frank zugewandt. »Irgendwie erfrischend. Bist du deshalb draußen?«
»Und schau dir bloß die ganzen Sterne anÉ«, sagte Frank wenig überzeugend und legte den Kopf in den Nacken.
»Wenn ihr da noch lange rumsteht, holt sich Mrs P den Tod«, rief ich nach unten. »Ach, übrigens, Bel sucht dich.«

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kay, okay, Charlie, wo du Recht hast, hast du Recht.« Er hielt die Tür auf und ging hinter Mrs P und Laura ins Haus. Ich wandte mich vom Fenster ab und setzte mich an Vaters Schreibtisch. Auf einem Blatt Papier befand sich eine Serie von mit Farbstiften hingekritzelten Gesichtern. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich merkte, dass es sich um immer das gleiche Mädchengesicht handelte. Darunter waren die jeweiligen Effekte notiert, die Zickzacklinien und schraffierten Flächen umgesetzt in teuflische, in Klammern gefasste Gleichungen, eine Serie von Buchstaben und Maßziffern, die für Farbe, Dichte und Reaktionsfähigkeit der in Frage kommenden Mixturen standen. Für die meisten Menschen war das nichts weniger als Alchemie; auch für mich, muss ich gestehen, ergaben sie nicht viel Sinn. Von der Wand schaute sein Porträt auf mich herab. Warum konntest du nicht einen normalen Hypothekenvertrag abschließen? Stumm und vorwurfsvoll blickte ich ihn an. Warum hast du uns allein gelassen mit diesem Chaos? Ausdruckslos erwiderte er meinen Blick.
Ich beruhigte mich wieder und bedachte die ramponierten Überreste meines großartigen Plans zur Rettung Amaurots. Die Gelegenheit, das stand außer Frage, eine wie auch immer befeuernde Botschaft oder wenigstens einen guten Eindruck zu hinterlassen, war zu diesem Zeitpunkt schon dahin. Tod oder kein Tod, die Chance, Bels Meinung über mich in eine vom anständigen, guten Kumpel etc. zu verwandeln, schien nicht mehr sonderlich groß zu sein. Was ich geschafft hatte, war lediglich, ihre Meinung von Amaurot als einer Art South Dublin House of Usher zu festigen. Kein Wunder, dass Frank ihr wie eine sichere, verantwortungsvolle Alternative erschien. Ich hatte sie praktisch in seine Arme getrieben. Die ganze Unternehmung war von Anfang bis Ende ein Debakel gewesen. Wäre Jesus Christus, dachte ich mir, bei seinem letzten Abendmahl nur zehn Prozent davon widerfahren, dann könnte man sicher darüber streiten, ob er überhaupt von den Toten hätte wieder auferstehen wollen.

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rotzdem war ich der Meinung, dass ich die Sache jetzt hinter mich bringen sollte. Ich stand auf. Dabei fiel mein Blick wieder auf das Gemälde. Spontan entschied ich, dass Bild weder einem Dieb noch einem Auktionator in die Hände fallen zu lassen. Ich nahm den Brieföffner vom Schreibtisch und fing an, die Leinwand entlang des Rahmens herauszuschneiden. Von draußen drangen gutturale, wie aus dem Jenseits kommende Dialogfetzen herein. Ich stellte mir vor, wie sich Wölfe zusammenrotten oder wie in einer Art verkehrtem Horrorfilm ein Mob wütender Monster Frankensteins Schloss in Brand steckt. Als ich die Leinwand herausgelöst hatte, rollte ich sie ein, faltete sie zusammen und steckte sie mir in den Hosenbund. Mir war jetzt eine Spur wohler. Dann holte ich aus meinem Zimmer die Tasche mit meinen Habseligkeiten und ging nach unten, um den anderen eine gute Nacht zu wünschen und draußen, wo die Wahrscheinlichkeit weiterer Peinlichkeiten geringer war, den Tod zu erwarten.
Ich hörte Stimmen in der Küche. Mein erster Anlaufpunkt war jedoch das Speisezimmer, wo ich einen Kandelaber nahm und befriedigt feststellte, dass die Anrichte, der Schrank und die zusammengestellten Tische aus- und abgeräumt waren. Ich nickte vor mich hin und verließ das Zimmer.
»Diese Budweiser-Anzeigen sind einfach fabelhaft É Hallo, Charles.«
»Na, wenn das nicht gemütlich ist!«
Frank, Laura, Bel und Mrs P saßen jeder mit einer Tasse Tee um den von einer einzigen Kerze beleuchteten Tisch herum. Bel brummte etwas wenig Schmeichelhaftes, als ich hereinkam.
»Schön gemütlich«, sagte ich noch einmal. Dann legte ich die Hände auf den Rücken, ging um den Tisch herum und fixierte dabei bedeutungsvoll Frank.
»Alles paletti?«, sagte Frank. Ich lächelte mild. Soll er doch noch den Unschuldigen spielen, morgen um diese Zeit war das Spiel aus.
»Möchtest du einen Tee, Charles?«, sagte Laura. »War eigentlich für eure Haushälterin gedacht, zum Aufwärmen und so, und dann meinte Frank, dass wir alle einen trinken könnten.«
»Hab noch Õn paar Jaffa Cakes gefunden«, sagte Frank und hielt mir die Schachtel hin.
»Ihre Haare glänzen so«, sagte Laura zu Mrs P, die definitiv katatonisch aussah. Ihren Tee hatte sie nicht angerührt.
»Eigentlich wollte ich gerade ins Bett gehen«, sagte ich und gähnte. »Aber da ist mir eingefallen, dass ich Bel noch was Wichtiges sagen muss.«
Bels einzige Reaktion darauf war, dass sie mir mit ihrem Stuhl den Rücken zukehrte.
Ich startete einen neuen Anlauf - »Äh É Bel?« - und versuchte mit einem Ausfallschritt wieder in ihr Blickfeld zu treten.
»Charles, bitte, ich will jetzt nicht mit dir redenÉ«
»Ja, ich weiß, nur ganz kurz É Würdest du bitte damit aufhören, den Stuhl von mir wegzudrehen?«
»Und sehen will ich dich auch nicht. Tut mir Leid, geht einfach nicht.«
»Es ist nur, dassÉ« Ich packte die Rückenlehne des Stuhls und beugte mich über sie.
»Also gut, was ist?«, sagte sie laut. »Was willst du mir sagen?«
»ÄhÉ« Derart überrumpelt, fiel mir nicht mehr ein, was ich sagen wollte. Ich richtete mich auf, tappte mit dem Fuß auf den Boden und suchte krampfhaft nach etwas Passendem, das ich sagen konnte. »Tja, also, gute Nacht, das war das Erste, was ichÉ«
»Fein«, sagte sie. »Gute Nacht.« Sie verschränkte die Arme und starrte wieder finster in ihre Teetasse.
»Tja«, sagte ich unsicher. »Das warÕs dann.«
»Alles klar, Charlie. Nacht.«
»Gute Nacht, Charles, danke für das wunderschöne Abendessen.«
»Schon gut.« Ich ging wie betäubt zur Hintertür. Meine Füße waren schwer wie Blei.
»Wo willst du eigentlich hin, Charles?«, fragte Bel gereizt.
»Was? Ach, ich geh nur mal kurz rüber zum Turm.«
»Um diese Zeit? Weshalb?«
»Einfach so«, sagte ich und drehte den Türknauf. »Na ja, hab gedacht, ich geh noch ein paar SchritteÉ«
»Fein.« Ärgerlich drehte sie sich wieder um.
»Also dann, gute Nacht zusammen.« Ich öffnete die Tür. »Und falls wir uns nicht mehr sehen sollten, also, äh É seid nett zueinander, na, ihr wisst schon.« Ich ging rückwärts durch die Tür. »Und baut an einer besseren Zukunft É und so. Na ja, egal, wir sehen uns ja sowieso wieder. Trotzdem, nur zur Erinnerung, damit ihrÕs nicht vergesst, strengt euch an, immer dranbleibenÉ« Die Gefühle übermannten mich. Ich ging schnell nach draußen und schloss die Tür.

I
m Garten war es kühl und frisch. Ich lehnte mich an die Hauswand und rieb mir die Augen. Frank hatte Recht. Der Himmel wimmelte von Sternen. Ich schaute sie mir an: Kerzen im grandiosen Haus des Himmels, wo die Götter sich anrempelten und stritten, sich entschuldigten und wieder auseinander gingen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 03.04.2006