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Tiefer Blick in
Nachbars Stube

Teleskope in New York der Renner

New York (dpa). Wenn es Nacht wird in New York, werden die Teleskope scharf gestellt. Aber nicht, um den Sternenhimmel zu beobachten, sondern um die Nachbarn zu bespitzeln.

Viele Bewohner des Wolkenkratzerwaldes haben 200 oder mehr Wohnungen auf einmal im Blick und verfolgen das Privatleben Dutzender Menschen, ohne diese jemals persönlich kennen zu lernen.
Jede Woche werden in New York etwa 100 Teleskope verkauft, heißt es in den Medien. Dazu kommen Ferngläser, Operngläser und Teleobjektive. In manchen New Yorker Hotels gehören Ferngläser auf der Minibar schon zur festen Ausstattung. »In Manhattan zu leben, hat von vornherein einen voyeuristischen Aspekt«, sagt Matt Grzywinski, der Co-Designer des Hotels on Rivington. »Wir wollen New-York-Besuchern die Möglichkeit geben, sich daran zu beteiligen.«
Den Paparazzi von nebenan kommt zugute, dass viele Hochhaus-Wohnungen keine Jalousien oder Vorhänge haben. Wenn man so hoch oben lebt, gibt man sich leicht dem Gefühl hin, den Blicken der anderen entzogen zu sein. Doch wer mit seinem Teleskop die Krater des Mondes studieren kann, vermag damit allemal irdische Abgründe auf der anderen Seite des Central Parks auszuloten.
Dazu kommt noch, dass sich viele New Yorker nur all zu willig den fremden Blicken aussetzen. Es gibt sogar schon Hotel-Badezimmer, die bis zum Boden verglast sind, um sowohl Einblick nach draußen als auch von draußen zu gewähren. »Sehen und gesehen werden« bekommt so eine ganz neue Bedeutung.
Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass New York die höchste Singledichte der USA hat. 60 Prozent der erwachsenen New Yorker sind solo und die meisten von ihnen ständig auf der Suche nach dem nächsten Date.
Und bis dahin muss man sich abends schließlich irgendwie beschäftigen.
Barbara Hillebrand (33), die seit einem halben Jahr in New York lebt, kennt Reality-Soaps von der anderen Straßenseite bereits aus Holland: »Dort sind Hochhäuser zwar eher selten, aber dafür gibt es keine Gardinen. Meinen Nachbarn von gegenüber, einen Zahnarzt, habe ich zwei Jahre lang beobachtet. Ich weiß sogar, dass er an Silvester seine neue Liebe gefunden hat, denn an dem Abend habe ich den alten Freund zum letzten und den neuen zum ersten Mal gesehen.«
Immer wieder mal hat sie mit dem Gedanken gespielt, den Mann, den sie aus der Distanz so gut kannte, auf der Straße anzusprechen. »Einmal stand ich wirklich kurz davor und wollte ihn zu einer Feier einladen. Aber als sich unsere Blicke trafen, hat er sofort weggeschaut. Da habe ich plötzlich gedacht: Vielleicht beobachtet der mich ja auch!«

Artikel vom 30.03.2006