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Vom Wachsen einer Hilfsidee
Seit 16 Jahren ist die ostwestfälische Initiative »agape« für behinderte Kinder und Bedürftige in Rumänien tätig
Manchmal reicht ein kleiner Anstoß, um Großes in Bewegung zu bringen. »agape«, die nach dem griechischen Wort für die Liebe zum Nächsten benannte ökumenische Initiative für behinderte und benachteiligte Menschen in Rumänien, ist ein höchst lebendiges Beispiel dafür, wie »ganz normale Leute« aus dem Nichts ein beispielgebendes Hilfswerk geschaffen haben.
In der ebenso christlichen wie praxiserprobten Tradition der Hilfe zur Selbsthilfe haben diese Menschen aus Ostwestfalen-Lippe in Siebenbürgen ein Netzwerk aufgebaut, das inzwischen weit mehr leistet als die Hilfe für Kinder, um die es zunächst ausschließlich ging.
»Man kann eben doch etwas tun, wenn man will«, sagt Rüdiger Frodermann und verweist auf die ungefähr 30 Aktiven und gut 266 fördernden Mitglieder des »agape«-Vereins in Ostwestfalen-Lippe. Der heute 42 Jahre alte Sozialmanager ist der Motor von »agape«. Der Lemgoer war als Erzieher in den von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel tätig, als er vor 16 Jahren Bilder zu Gesicht bekam, die ihm schlichtweg den Schlaf raubten.
Diese Bilder aus staatlichen Kinderheimen des zerbrochenen Ceausescu-Regimes zeigten Jungen und Mädchen in verkoteten Betten, angekettet in vergitterten und verdrahteten Verschlägen und trotz der Kälte in Lumpen auf nacktem Steinböden dahinvegitierend. Spindeldürre Sechsjährige blickten aus leeren Augen in die Kamera, mit ihren unterentwickelten Beinchen zu keinem Schritt fähig.
Für Frodermann und Menschen aus seinem Bekanntenkreis war das unfassbar und unerträglich. Unverzüglich machten sie sich auf den Weg zum Ort dieser Leiden, dem Kinderheim Coltesi in Siebenbürgen, um zunächst einmal mit dem Notwendigsten zu helfen.
»Als wir dort ankamen war natürlich sofort klar, dass mit einem Bulli voller Kleidung und der Renovierung des total verkommenen Gebäudes eigentlich gar nichts getan ist«, erinnert sich Rüdiger Frodermann an seine ersten Eindrücke aus Rumänien. Und so begannen er und seine Mitstreiter für die Sache zu werben. Unter dem Dach der evangelischen Kirchengemeinde Bad Salzuflen-Lockhausen wurde die Hilfsinitiative »agape«, heute längst als mildtätiger Verein anerkannt, ins Leben gerufen. Vor allem den von Eltern und Staat verlassenenen behinderten Kindern aus Coltesi sollte damals ein menschenwürdiges Leben ermöglicht werden.
Schnell und direkt helfen - mit dieser Zielsetzung wurde alsdann für Spenden getrommelt. Gebraucht wurde damals so gut wie alles - und Geld ohnehin. Vor allem Kleiderspenden aus Ostwestfalen-Lippe sind bis heute die materielle Grundlage für die Hilfe von »agape« geblieben. Und zupackende Menschen: Immer wieder fuhren und fahren Handwerker und Ingenieure im Urlaub oder im Ruhestand, Praktikanten und andere von der Idee begeisterte Menschen los.
Schon Anfang der 90er Jahre und erstaunlich schnell entstand auf diese Weise eine Einrichtung, die nicht nur liebevoll nach Bethel-Vorbild geführte Häuser für die vergessenen Kinder von Coltesi und ihre Leidensgenossen - von Eltern einfach in Krankenhäusern zurückgelassene behinderte Kinder - vorhielt, sondern auch die Betreuung der Schützlinge auf lange Sicht plante. Heranwachsende fanden etwa Beschäftigung in Handwerksbetrieben wie einer Mühle und einer Bäckerei.
Der rumänische Staat erkannte und akzeptierte bereits in diesen frühen Jahren des Umbruchs, dass es dank der Deutschen von »agape« mit den Kindern vorwärts ging. »Sicher«, erinnert sich Frodermann, »manchmal gab es Probleme mit schwierigen Politikern. Aber unsere beharrliche Arbeit hat überzeugt. Wir wurden überwiegend unterstützt.«
Anteil daran hatte sicher auch, dass sich die ganze Familie in die Aufgabe stürzte. Von 1993 bis 1998 lebten alle, auch Frau Ute, eine Heilpädagogin, und der heute 14 Jahre alte Sohn Moritz auf der humanitären Baustelle in Rumänien. 1995 kam Tochter Johanna (11) hinzu, und die jüngste Tochter Rahel (7) war immerhin schon besuchsweise mit.
Kernstück der Arbeit von »agape« ist jetzt das Kinderdorf Canaan im Ort Sercaia inmitten von Siebenbürgen. In Zusammenarbeit mit dem 1995 in Fagaras, der nächstgrößeren Stadt, gegründeten Partnerverein Diakonia wurde dort zielstrebig eine Einrichtung geschaffen, die in Rumänien Modellcharakter hat. Etliche Praktikantinnen aus Ostwestfalen sammelten hier inzwischen Erfahrungen im sozialen Bereich, die Weiterbildung der rumänischen Mitarbeiterinnen erfolgt wechselweise in Zusammenarbeit mit Bethel in Ostwestfalen. Rüdiger Frodermann: »Das bestärkt die Leute unglaublich in ihrer Arbeit, macht ihnen Mut.«
Das Kinderdorf Canaan umfasst heute mehrere Wohnhäuser für Kinder und Jugendliche. Mehr als 50 Mädchen und Jungen werden hier betreut. Manche von ihnen sind geistig wie körperlich schwerstbehindert, andere können inzwischen die Schule besuchen oder in der Werkstatt mit Tischlerei und Weberei arbeiten.
Und so gehört es zu den glücklichsten Momenten der »agape«-Mitarbeiter, wenn in einem der regelmäßigen Rundbriefe beispielsweise darüber berichtet werden kann, wie Kinder dank dieser Förderung ins Leben gefunden haben. Die 16-jährige Anca beispielsweise. Als achtjähriges misshandeltes und sexuell missbrauchtes Kind kam sie in die Obhut des Hauses. Heute beweist ausgerechnet dieses geistig zurückgebliebene Mädchen eine dermaßen erfrischende soziale Kompetenz, das Praktikantin Dorothea Ahlemeyer aus Entrup im Kreis Höxter voller Begeisterung berichtet: »Anca hat zwar Schwierigkeiten, die Wochentage auseinander zu halten, kann weder lesen noch schreiben. Dafür aber Dinge, mit denen andere in ihrem Alter völlig überfordert wären. Anca wäscht und kämmt die anderen Kinder, wechselt ihnen die Windeln, ist Ersatzmama. Dabei hat sie selbst nie richtig erfahren, was es heißt, Eltern zu haben.«
Gemeinsam mit der Diakonia Fagaras werden in dem nach deutschen Maßstäben noch immer bitterarmen Land Südosteuropas aber auch Obdachlose und Blinde betreut, eine Armenküche betrieben, das Frauenhaus unterstützt. Und es wird Familien geholfen, denen es wortwörtlich am »täglich Brot« fehlt. Das Projekt »200 Brote für 200 Familien«, von ostwestfälischen Sponsoren finanziert, bringt den Bedürftigen etwas auf den Tisch - gebacken vom Canaan-Nachwuchs in der Diakonia-Bäckerei.
Ingo Steinsdörfer

Artikel vom 22.04.2006