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»Die Deutschen kritisieren nur«

WM-Paten (Folge 13): Brasilianerin Tatiane Villar lebt ein Jahr in Herford

Von Lars Krückemeyer
und Jörn Hannemann (Foto)
Herford (WB). Fragt man Tatiane Villar nach den Vorrundengegnern ihres Heimatlandes, kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen. »Australien, Kroatien und Japan. Gegen Kroatien wird es vielleicht etwas enger, aber die beiden anderen schlagen wir locker«, gibt sich die Brasilianerin siegessicher.

Damit lehnt sich die 17-Jährige gewiss nicht zu weit aus dem Fenster, denn Tatiane kommt aus dem Land des Titelverteidigers. Seit August 2005 ist sie für ein Jahr in Herford »zu Hause«, wo sie bei der Familie Reinhold lebt und im Rahmen eines Schulaustausches das Friedrichs-Gymnasium (12. Klasse) besucht.
Tatiane hat sich in Ostwestfalen schon richtig eingelebt, was nicht nur daran liegt, dass sie bereits in ihrer 14 Millionen Einwohner zählenden Heimatstadt São Paulo die deutsche Sprache erlernt hatte. Schnell fand die 17-Jährige neue Freunde und geht für die Handball-A-Mädchen der Turngemeinde Herford auf Torejagd. »In Brasilien war ich Spielmacherin, hier bin ich Außenspielerin«, musste sich Tatiane Villar in der Handball-Hochburg Ostwestfalen neu orientieren. Auch in der Bielefelder »SchücoArena« war Tatiane schon zu Gast und sah den 2:1-Sieg der Arminia gegen den VfB Stuttgart. »Das war Klasse, da bin ich ja ein Lokalpatriot!«
Als Handballerin tanzt sie in ihrer Familie sportlich gesehen aus der Reihe, denn ihre Geschwister Ricardo (26) und Viviane (23) haben es in den US-Fußballligen sogar zu Profi-Ehren gebracht. Nicht nur deshalb ist auch für Tatiane, die nach dem Abitur nach Deutschland zurückkehren und Tiermedizin studieren möchte, Fußball die Nummer 1. »Wir wohnen in São Paulo ganz in der Nähe des Stadions des amtierenden Meisters Corinthians. Da sind wir natürlich immer vor Ort«, kennt sie sich in der Fußballszene des amtierenden Weltmeisters aus.
Eine überraschende Antwort gibt es von Tatiane auf die Frage nach ihrem Lieblingsspieler. Nicht die Torjäger Ronaldo oder Ronaldinho sondern Cicinho, ein Defensivstratege, hat es ihr angetan. »Ich mag seine Spielweise, außerdem kommt er aus São Paulo«, erzählt die fachkundige »Tatti« über den 25-jährigen Rechtsverteidiger, der inzwischen bei Real Madrid spielt und in der Nationalmannschaft schon als Nachfolger von Cafu gesehen wird.
Um die Titelverteidigung der Brasilianer macht sie sich keine Sorgen, in den Genuss eines Live-Spieles der »Celecao« kommt aber auch Tatiane Villar nicht. »Ich habe leider keine Karten bekommen, dafür haben wir uns schon mit Fahnen eingedeckt«, wird sie die Spiele im Kreis der Familie Reinhold in Herford vor dem Fernseher erleben.
Was die deutsche Mannschaft, deren Erfolgsaussichten und die Stimmung so kurz vor der Weltmeisterschaft im eigenen Land angeht, hat Tatiane Villar eine bemerkenswerte Ansicht parat: »Ich habe das Gefühl, die Deutschen verzweifeln zu schnell und gucken sich die Spiele nur an, um kritisieren zu können. Die Brasilianer waren vor der WM 2002 auch nicht so toll, aber sie wurden bedingungslos unterstützt und wurden Weltmeister!«

Artikel vom 06.04.2006