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Was?«, sagte ich. Es klang wie ein verzweifeltes, röchelndes Flüstern.
Dann herrschte Stille. Ich schaute Laura an, schaute sie mir wirklich genau an - und hatte plötzlich das Gefühl, als äße ich mit einem Abziehbild, einem billigen Imitat, zu Abend. Ich fühlte mich wie der Mann, der einen Karton mit echten Weltkriegsmemorabilia ersteigert, den Karton nach Hause trägt und unter der ersten Schicht nichts weiter als geschreddertes Zeitungspapier vorfindet.
»Nun ja, das ist alles sehr aufregend«, krächzte ich ausgelaugt. »Aber vielleicht sollten wir jetzt doch damit anfangen, die Vasen undÉ«

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u hast Recht«, sagte sie, schob ihren Stuhl zurück und zog ihren Personal Organizer aus der Jacke. »Das war übrigens ganz bezaubernd. Eine wirklich gute Idee, das Abendessen zum Kennenlernen, muss ich unbedingt unserem Abteilungsleiter erzählen.« Sie ging zur Anrichte, stellte sich auf die Zehenspitzen und inspizierte, was auf dem obersten Bord stand. »Klar, dass das alles noch von einem Fachmann taxiert werden muss. Ich mache jetzt eine Bestandsaufnahme und eine grobe Schätzung, okay?«
»Fein«, sagte ich, schenkte mir wieder nach und beobachtete, wie sie Dinge hochhob und wieder abstellte, wie sie im Geist jedes mit einem Preisschild versah und sich auf ihrem elektronischen Notizblock eifrig Notizen machte. Sogar ihr Gesicht sah irgendwie unecht aus. Aus der Nähe ähnelte sie dem Mädchen aus Bels Jahrbüchern nur flüchtig. Und wenn ich das Licht noch so weit herunterdrehte, die Ähnlichkeit würde nicht größer werden. Wie war das möglich? Existierte die Laura, in die ich mich verliebt hatte, nur in den Jahrbüchern? Ein Bild, eingesperrt auf sieben körnigen Fotos, so wie ich eingesperrt war in der materiellen Welt?
Ich schaute zur Uhr. O Gott, war es wirklich erst halb zehn? Ich krallte meine Fingernägel in die Handflächen, während Laura sich unaufhaltsam durch ihre Vivisektion plapperte. Mein letzter Abend in Amaurot verschleudert, meine große Liebesgeschichte in Scherben, für nichts als ein paar überversicherte Vasen. Dann ein Fünkchen Hoffnung: das Geräusch des Schlüssels in der Haustür. »Entschuldige mich einen Moment.« Ich sprang auf, eilte in die Halle und erwischte die Heimkehrer, als sie sich gerade die Treppe hinaufschleichen wollten. »Bel! Gott sei Dank! Ah, Frank, bist du das? Mein lieber Freund, was für eine angenehme Überraschung!«
»Alles paletti?«
»Wir sind ziemlich müde, Charles, ich glaube, wir gehen gleich insÉ«
»Ja, ja, könnt ihr ja. Nur auf eine Minute ins Speisezimmer, okay? Laura wäre untröstlich, wenn du ihr nicht eben Guten Tag sagen würdest. Bel, bitte!«
»Ach komm, Charles É Also gut, aber nur eine Minute.«
»Ich geh vorher noch eben zum Schiffen«, sagte Frank.
»Ja, mein Großer, tu das.« Er stapfte davon, und Bel - seufzend wie ein Chirurg, der schon auf dem Sprung nach Hause war und jetzt noch mal in den OP musste - zog sich die Handschuhe aus und ging mir voran ins Speisezimmer.
»Laura.« Sie legte die Handtasche auf einen Stuhl. »Wie schön, dich zu sehen.«
»Mein Gott, Bel!« Laura unterbrach die Bestandsaufnahme mit einem Juchzer der Freude. »Wie gehtÕs dir?«
»Mir gehtÕs gut. Und du wirst ja ganz gut von Charles unterhalten, wie ich sehe.«
»O ja, wir hatten irre viel Spaß. Komisch, erst neulich hab ich zu Bunty gesagt, dass dich schon weiß Gott wie lange keiner mehr gesehen hatÉ«
»Ihr Smorfett-Mädchen führt ja ein hektisches gesellschaftliches Leben«, konterte Bel lächelnd und schenkte sich ein Glas Wein ein. »Da bleibt man schnell auf der Strecke.«
»Du siehst immer noch fantastisch aus, wie ein richtiger Künstler. Hast du das secondhand gekauft?«
»Danke, gleichfalls. Wo hast du nur den wunderschönen Hosenanzug her? Darin siehst du richtig gereift aus?«
»Ach, den hab ich mal wo mitgenommen. So viel Zeit zum Shoppen hab ich derzeit nicht, ich hab so viel ArbeitÉ«
»Laura ist befördert worden«, setzte ich Bel ins Bild.
»Und was ist mit dir, Bel, immer noch bei der Schauspielerei, oderÉ?«
»Ich bin dabei, Fuß zu fassen«, sagte Bel. »Das braucht seine Zeit.«
»Mmm.« Laura nickte und widmete sich wieder der grünen Jade. »Ich wusste gar nicht, dass deine Familie so vielÉ« Sie hielt inne und errötete. »Õtschuldige, aber es ist doch sicher kein übles Gefühl, wenn man weiß, dass da noch was ist, auf das man zurückgreifenÉ«

G
ut möglich, dass die beiden in Kürze Blut vergossen hätten, wäre in diesem Augenblick nicht Frank hereinspaziert - mit einer Tüte Chicken Balls, seiner Leibspeise. Bevor wir uns kennen gelernt hatten, war mir nicht bewusst gewesen, dass Hühnchen in Kugeln verkauft wurden. »Alles paletti?« Die Frage war an den Raum ganz allgemein gerichtet. Und dann: »Heilige Scheiße!«
»Das gibtÕs doch nicht!« Laura legte eine Hand auf ihre Brust.
»Wie gehtÕs dir, du alte Schabracke«, dröhnte er und breitete seine Arme weit aus.
Sie hüpfte ihm mit einem Freudenschrei an die Brust. »Das gibtÕs doch nicht!«, sagte sie wieder, jetzt etwas gedämpfter wegen Franks Umarmung.
»Was gibtÕs nicht?«, fragte Bel, als Laura schließlich wieder aus seinen Armen auftauchte.

K
nallrot angelaufen vor glückseliger Erregung, hob sie zu einer endlosen Erklärung an. Ich ließ mich auf den Stuhl plumpsen und nahm ihr Weinglas. Anscheinend war Frank einer jener libidinösen Griechenlandurlauber gewesen. Und tatsächlich: Er war sogar einer von Lauras geliebten T-Shirt-Grabschern.
»Die Nacht werde ich nie vergessen«, sagte sie mehrmals und lachte dabei laut.
»Ich auch nicht«, sagte er und stierte lüstern auf ihren ansehnlichen Busen.
»Weißt du noch, dieser Wüstling É wie hieß der noch mal É war so ähnlich wie dieses Thai-ZeugÉ«
»Onion Bhaji!«, brüllte Frank juchzend. »Onion Bhaji, so ein Idiot!«
»Weißt du noch, wie meine Freundin Liz den Kerl haben wollte, und er vernascht gerade in ihrem Zimmer ihre Mitbewohnerin, und sie platzt rein und sagt: ÝVerplemper bloß nicht dein ganzes Sperma auf die daÉÜ«
»Und weißt du noch, als wir die Wanderung gemacht haben und er den ganzen Sangria ausgesoffen hat, und wir haben ihn dann die Klippen runtergeschmissenÉ«
Sie warfen die Köpfe zurück und lachten schallend.
»Hat sie Sperma gesagtÉ?«, flüsterte ich Bel zu.
Bel beobachtete die beiden mit einem matten Lächeln.
»Äh É Bel É«
»Charles«, sagte sie, ohne mich anzuschauen. »Wir brauchen Wein. Gut möglich, dass wir noch eine Weile hier sind.«

E
s war eine Wohltat, in den Keller zu gehen, die verzogenene Tür zu schließen und die verderbten Reminiszenzen und die Nichtigkeiten ihrer späteren Leben auszusperren und die moosige, zähflüssige Luft zu atmen. Die rohen Holzleisten, die fleckigen Betonmauern, das leichte Knarzen der Bodendielen unter meinen Füßen - es war etwas an diesem Keller, das mich immer wieder aufs Neue belebte. Ich stieg die schiefen Stufen hinunter und war froh, dass Bel nach Hause gekommen war, und ich dachte, dass das Abendessen eigentlich gar nicht so schlecht gelaufen war. Vielleicht habe ich sogar ein- oder zweimal gekichert über Lauras peinigende Art, Konversation zu machen. Und dann sah ich die Stellagen. Sie waren so gut wie leer.
Ungläubig schaute ich von einem Gestell zum nächsten. Wie winzige weiße Grabsteine blickten mich die überflüssigen Etiketten an den Stellagen traurig an. Idiotischerweise dachte ich zuerst, dass die Flaschen vielleicht woanders lägen. Ich schaute hinter die großen Eichenfässer, unter das Gestrüpp der elektrischen Leitungen, zwischen die Leergutkisten unter der Treppe. Dann stand ich einfach mit offenem Mund da. Übrig war lediglich ein Regal mit dubiosen Likören, Präsente an die Familie, die sich im Laufe der Jahre angesammelt hatten und auf die bis heute noch niemand hatte zurückgreifen müssen. Alles andere war weg. Meine Hände zitterten. Erst Laura, jetzt der Keller, der unantastbare Keller - es war, als verspottete mich die Welt, als drückte sie mich mit all ihrer idiotischen Macht zu Boden: Vergeblich ist dein MühÕn, sagte sie. Wir haben schon gesiegt.
Ein paar Minuten lang war ich ratlos. Dann atmete ich tief durch. Der Abend war noch nicht vorbei. Noch hatte ich die Chance, Franks Schreckensherrschaft ein Ende zu machen. Ich biss die Zähne zusammen, raffte einen Arm voll dieser unaussprechlichen Liköre zusammen und stürmte wieder nach oben.

F
rank rekapitulierte gerade die triumphale, erst vor wenigen Stunden geübte Rache an dem Idioten aus dem Pub. Laura hing an seinen Lippen und saugte jede schauerliche Einzelheit in sich auf. Bel hatte ihren Stuhl herangerückt und einen besitzergreifenden Arm um Frank gelegt.
» Éund als dann die Luft raus war, haben wir die Fenster eingeschlagen, holen das Radio raus und zünden die Kiste an. Und dann sind wir zu dem Haus, wo er mit seiner Oma wohnt. Davor aufm Rasen stehen massenweise diese Gartenzwerge rum, und wir fangen an und knallen denen die Zwerge gegen die Haustür und brüllen ÝHe, du Idiot, komm rausÜ und so was, bis er endlich rauskommt. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 28.03.2006