30.03.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Es ist wie in einer anderen Welt, man weiß nicht immer, was als Nächstes passiert oder um welche Zeit das Abendessen serviert wird. Ich habe das Gefühl, dass ich lebe.«
»Hältst du es für möglich, dass du das alles ein klein wenig romantisierst?«
»Ich hatte nicht erwartet, dass du das verstehen würdest«, sagte sie kalt.
Dazu fiel mir nichts ein, wahrscheinlich hatte sie Recht. Sie rückte ihren Stuhl wieder näher an Frank heran, und obwohl ich es war, der nach Chile ging, hatte ich die seltsame, überraschend schmerzvolle Empfindung, dass sie es war, die mich verließ.
Wir hatten eine ziemliche Schneise in die Bresche der Likörflaschen geschlagen. Lauras Wangen glühten frisch rosa, und ihre verhangenen Augen funkelten alkoholisiert, während sie so dahinplapperte. Wenn sie nicht redete, kicherte sie oder teilte scherzhafte Klapse aus. Bel lächelte freudlos und schaute mich nicht mehr an. Laura hatte den Kragen ihrer Bluse zur Seite geschoben und zeigte Frank den Träger ihres BHs. »Siehst du?«, sagte sie. »Magenta.«
»Sieht für mich einfach nur rot aus«, sagte er lüstern grinsend und beugte sich über ihren schneeweißen Hals.
»Die haben spezielle Namen«, sagte Laura. »Zum Beispiel ultramarin, das ist ein Blauton. Christabels Augen sind so. Ich hab dir das nie erzählt, Bel, aber in der Schule war ich immer echt neidisch auf deine Augen.«
»Ehrlich?« Obwohl es ziemlich dunkel war, konnte ich daran erkennen, wie Bel den Kopf senkte, dass sie errötete.

D
amals wusste ich nicht, wie die Farbe richtig heißt, ich dachte eben, es ist Blau. Aber dann, in einer Parfümerie, habe ich einen Lidschatten gesehen, der hatte genau die Farbe, UltramarinÉ Ich habe mich gefragt, ob CharlesÕ Augen auch so sind, und tatsächlich, die gleiche Farbe.« Sie strahlte mich an. Möglicherweise errötete ich auch ein wenig.
»Und deine Höschen haben immer die gleiche Farbe wie der BH?«, fragte Frank mit anthropologischem Gesichtsausdruck.
Unter dem Tisch stieß ich Bel mit dem Fuß an. Sie fing an zu lachen.
»Langsam verstehe ich«, sagte ich.
»Na also«, sagte sie. »Gib mir noch einen Schluck von diesem grässlichen Elefantensud.«
Ich schenkte ihr ein und gähnte wie abwesend. »Ich werde mich wohl bald verdrückenÉ«
»Wie bitte, du willst tatsächlich allein sein?«
»Diese Leibwäschekonversation ist zweifelsfrei erhellend, aber ich will ins Bett, ganz einfach. Ach, übrigens, Laura hatte die letzten fünf Jahre einen festen Freund.«
»Nein, nicht möglich!«, sagte Bel mit gespielter Entrüstung. »Tatsächlich? Anstatt auf dich zu warten, auf den Mann, den sie nie in ihrem Leben gesehen hat?«
»Na ja, ich meine, die ganze Zeit habe ich mich gesehnt nach ihr und Lieder für sie geschrieben undÉ«
»Ein einziges Lied hast du geschrieben, Charles.«
»Nun ja, gut, aber trotzdem, ich hab mir immer gedacht, früher, wenn was mit den Mädchen schief gelaufen ist, sie ist jedenfalls noch da.« Ich schüttelte den Kopf. »Fünf Jahre mit einem Tankwart namens Todd.«
»Der Tod, da ich nicht halten konnt, hielt an, war gern bereit.«
»Ha, ha, sehr lustigÉ« Plötzlich gingen lautlos die Lampen aus.
Laura kreischte. Klirrendes Glas war zu hören. »Was ist passiert?«, fragte sie mit zittriger Stimme.
»Das Licht ist ausgegangen«, sagte Bel ätzend.
»Wahrscheinlich Kurzschluss«, sagte Frank im Tonfall professioneller Gleichgültigkeit.
»Ich klingel nach Mrs P«, sagte ich, stand auf und tastete nach der Klingelschnur. Die Schwärze machte mich schwindelig. Um mich herum klackerte Nippes auf den Boden.
»Lass sie schlafen, Charles. Wir werden es ja wohl noch schaffen, eine Sicherung auszuwechseln.«
»Aber es ist verdammt dunkel.«
»Vielleicht haben die uns den Saft abgedreht.«
»O Gott, glaubst du wirklich? Charles, bei den Rechnungen, war da auch auch eine Stromrechnung dabei? Ich bin mir eigentlich ziemlich sicher, dass das abgebucht wird, aberÉ«
»Ich kann mich wirklich nicht erinnern, das waren so viele.«
»O mein Gott«, sagte sie verzweifelt.
»Alles halb so schlimm É hierÉ«
»Brennt bei den Nachbarn noch Licht?«
»Von hier kann man die anderen Häuser nicht sehen«, sagte ich und schob mich schnell zwischen Laura und das Fenster.

I
ch hörte ein kratzendes Geräusch. Dann sah ich Franks Gesicht im Schein eines Feuerzeugs, Laura, die auf dem Weg zurück zu ihrem Stuhl stehen blieb, und Bel, die ihren Platz auf Franks Schoß wieder eingenommen hatte. »Habt ihr Kerzen da?«, fragte Frank.
»Mrs P hat welche in der Küche«, sagte Bel, ohne sich zu rühren. Frank nutzte die Dunkelheit, um sie unschicklich zu zwicken.
»Es ist so dunkel«, sagte Laura traurig und schlang die Arme eng um ihren Körper. Dann drehte sie sich um und taperte vor dem Fenster herum.
»Dann hol ich sie mal, oder?«, sagte ich nervös.
»Ich hab solche Angst«, sagte Laura halb zu sich selbst und erstarrte dann. »O Gott! Da draußen ist jemand.«
»Was?« Bel hob den Kopf.
»Jetzt werdet bloß nicht albern. Los, Frank, gib mir das Feuerzeug, ich geh jetzt dieÉ«
»Da É da steht jemandÉ«
»Das ist wahrscheinlich bloß ein Baum oder so.« Ich packte Laura an den Schultern, drehte sie um und schob sie vom Fenster weg. »Wie wärÕs, wenn du mitkommst und mir beim Kerzensuchen hilfst?«
»Okay.« Sie folgte mir gehorsam in die Halle. »O mein Gott, Charles, ist das deine Hand?«
»Ja, entschuldige.« Offenkundig war sie nicht darauf erpicht, gezwickt zu werden.
Die Küche war leer. Laura lehnte am Tisch, während ich zahllose Schubladen durchsuchte. »Wie lange sind Christabel und Frank schon zusammen?«
»Weiß nicht. Hältst du mal eben das Feuerzeug. Pass auf, heiß. Einen Monat oder so.«
»Und? Ist es was Ernstes?«
»Jedenfalls suchen sie eine Wohnung zusammen.«
»Oh«, sagte sie nachdenklich.

I
ch ging in die Hocke und setzte die Suche im Schrank unter der Spüle fort. In dem schwummrigen Licht wühlte ich zwischen Topfschwämmen, seltsam geformten Bürsten, harten Plastikflaschen mit Bleich- und Waschmitteln, Landkarten, in Frankreich, Deutschland, Slowenien abgestempelten Briefen É Moment mal! Landkarten? Briefe? Und dann fielen mir die Kerzen in die Hände, sodass ich die Klärung dieses Rätsels auf später verschieben musste. »Hier, nimm.« Dann zündete ich meine Kerze an ihrer an und eilte ihr voraus zurück Richtung Speisezimmer. Gut möglich, dachte ich, dass sich der Stromausfall im Nachhinein als Glücksfall erweisen könnte. Laura konnte ihre Bestandsaufnahme nicht mehr fortsetzen und würde sicher bald nach Hause gehen. Für Frank wäre die Dunkelheit nur noch ein zusätzlicher Anreiz zum Zuschlagen, weshalb man unbedingt die Kerzen aufstellen und das Zimmer räumen musste - und zwar pronto. »Äh É Charles, hast du eigentlich einen Job, oderÉ?« Im Schein des Kerzenlichts hüpfte ihr Gesicht artig auf mich zu.
»Was?«
»In so einem Haus zu leben, muss wahnsinnig interessant sein.«
»OhÉ« Bildete ich mir das nur ein, oder hörte ich da eine Veränderung im Tonfall heraus, eine geneigte Aufmerksamkeit, die vor wenigen Augenblicken noch nicht da gewesen war? »O ja, es ist schon interessant, sicher, es kann aber auch sehr strapaziös sein.«
»Oh, entschuldige«, sagte sie, als ihre schlenkernde Hand die meine streifte.
»Schon gut. Ist doch genau wie in dieser einen Szene aus La Dolce Vita. Was meinst du?«
»Hmm, ja, ich hab gerade gedacht, dassÉ«
Wie auf Stichwort drang von irgendwo über uns ein dumpfes Stöhnen nach unten. Laura packte meinen Arm.
»Wer ist da?«, rief eine krächzende Stimme. »Wer geht da unten?«
»Wir sindÕs nur«, rief ich nach oben, während Laura sich an mich drückte. »Laura und ich.«
»Wer ist das?«, flüsterte Laura. Der fette Geruch von Wein und RigbertÕs stieg mir in die Nase.
»Mrs P.« Eine Stufe nach der anderen knarzte träge. Mrs P tauchte am Treppengeländer auf. Im Halbdunkel war schemenhaft ein langes weißes Nachthemd zu erkennen.
»Stromausfall«, sagte ich.

W
ir haben die Kerzen gefunden, Sie brauchen nicht extra runterzukommen.« Das regelmäßige Knarzen hörte nicht auf. Lauras Finger umklammerten meinen Arm fester. »Weißt du was?«, sagte ich leise. »Warum gehst du nicht schon mal vor ins Speisezimmer? Ich komm nach, wenn ich sie wieder im Bett habe.«
Laura zögerte eine Sekunde und starrte noch einmal die weiße Gestalt an. Dann ließ sie meinen Arm los und stürzte davon in die Dunkelheit. »Nun denn«, sagte ich an Mrs P gewandt. »Wie Sie wissen, haben wir Gäste, und ich bezweifle, ob es passend ist, dass Sie hier im Nachthemd herumwandernÉ«
»Was ist passiert?«, fragte sie. »Was passiert mit unserem Haus?«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 30.03.2006