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Wenn ich mich bei ihr so dramatisch getäuscht hatte, was bedeutete das für meine anderen Pläne? Waren die auch Irrtümer? Vielleicht hatte Bel Recht. Vielleicht gab es hier am Ende doch nichts zu bewahren. Vielleicht hatte Amaurot sich überlebt, und es war besser, dass die Welt sich seiner annahm und die Wellen über ihm zusammenschlugen.

D
ie Uhr tickte. Ich holte das 20x25-Foto von Gene unter dem Bett hervor und hielt es neben dem Fenster in die Höhe. Die Ähnlichkeit war nicht zu leugnen: der Schnitt ihrer kühl marmornen Stirn, der wohlgeformte Schwung ihrer Wangen, die berückende Naivität, die so verführerisch mit ihrer Schönheit turtelte. Und dann der Name, Laura: Elégance noire. Namen waren wichtig, man musste nur ihre Bedeutung herausarbeiten können. Ich schloss die Augen und ließ die berühmte Szene aus dem Film ablaufen - aus Laura, versteht sich: Der Detective verbringt die Nacht in ihrer Wohnung. Er liest ihre Briefe und ihr Tagebuch, riecht ihr Parfüm, schaut sich ihre Garderobe an, trinkt ihren Scotch, immer unter den wachsamen Augen ihres Porträts an der Wand, zu dem die Kamera immer wieder zurückkehrt. Sie ist schon tot, als der Film beginnt, getroffen von zwei vollen Ladungen mitten ins Gesicht. Es ist das Porträt, in das sich der Detective verliebt. Tierney hatte ihre Zweifel, was die Rolle betraf. »Wer will schon ein Gemälde spielen?«, hatte sie gesagt. Aber auch die Zuschauer verliebten sich in Laura und machten einen Star aus ihr. Und entgegen ihrer eigenen Meinung schien die Rolle wie maßgeschneidert für sie: ein märchenhafter Schatten, der wie Rauch über den Intrigen und Obsessionen ihrer Liebhaber schweben konnte; er hing sozusagen zwischen den Dachbalken, in den Ritzen zwischen Leben und Tod, selbst dann noch, als im wirklichen Leben Ehe und Verstand schon kränkelten. Das »GET-Girl«, das mit sechzehn aus dem Schweizer Internat zurückkehrte und das Elternhaus gepfändet vorfand, das 1958 in New York im dreizehnten Stock auf einem Fenstersims stand und trotz seiner benebelten Sinne registrierte, dass die Wohnung gegenüber Arthur Miller und dessen neuer Frau Marilyn Monroe gehörte, und das in letzter Minute der Gedanke quälte, dass sie eine doch recht hässliche Leiche abgeben würdeÉ

W
enigstens fünf Minuten waren vergangen, und von meiner Laura, der echten Laura, noch kein Lebenszeichen. Ich ging zur Tür und schaute in den pechschwarzen Gang. Nicht das Geringste zu sehen. War sie noch im Bad? War sie irgendwo umgekippt? Oder É Ich musste daran denken, wie sie Frank angemacht hatte. Hatten die beiden sich in irgendeine Ecke verdrückt? Und dann bekam ich es mit der Angst. Ich sah sie vor mir, wie sie im Laderaum des verrosteten weißen Lieferwagens Franks Kaminsims entgegenschaukelteÉ
Blind eilte ich durch den dunklen Gang Richtung Treppe. Plötzlich schoss eine Hand aus einer Türöffnung, packte mein Handgelenk, und noch bevor ich sie darauf hinweisen konnte, dass wir uns im falschen Zimmer befanden, küsste sie mich. Es handelte sich nicht um die Sorte Kuss, die man freiwillig beendete, vielmehr verschwand exakt in der Sekunde, als ihre Lippen die meinen berührten alles - absolut alles - aus meinem Kopf. Ein Kuss, in dem man versank, zart und verwirrend wie ein Wirbel Schneeflocken. Und während sie so fröhlich auf mich herabschwebten, schienen sie mir zuzuflüstern, ich solle nicht verzweifeln, egal, was heute Abend passiere, es würde immer alte, aus Stein erbaute Häuser und lange, nachschwingende Küsse geben, Dinge, die auf ewig neben der wankelmütigen Welt existierten, Dinge, die zu mir gehörten.
»Laura«, säuselte ich ihr schmachtend in die Wange. »LauraÉ«
Sofort veränderte sich etwas, und zwar deutlich spürbar. Unsere Hände hörten augenblicklich auf, sich zu bewegen. Wie erstarrt standen wir da, die angespannte Stille schien eine Ewigkeit zu dauern É
»Charles?«
»Allmächtiger!«
»Nimm die Finger weg!«, kreischte Bel, schlug meine Hand von ihrem Oberschenkel und stieß mich so heftig zurück, dass ich stolperte und mit dem Kopf gegen den Türpfosten knallte. »O Gott, ist alles okay?« Sie streckte mir die Hand entgegen, erinnerte sich jedoch daran, wie entsetzt sie war, und stieß mich wieder zurück. »O Gott, o GottÉ«
»Au.« Ich rappelte mich vom Boden auf, massierte meine Beule und versuchte wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
»O Gott É Charles. Das ist ja É eklig.«
»Ich glaube, ich habe ein Aneurysma«, sagte ich japsend. »Ruf den Notarzt, BelÉ«
»Raus, Charles, verschwinde!« Sie zog an ihren Haaren und stampfte mit den Füßen auf. »Würdest du bitte verschwinden É bitte!« Sie war drauf und dran, in Tränen auszubrechen. »Kapierst du nicht, wie eklig das ist?«
»Was gibst du mir die Schuld«, sagte ich. Langsam war ich beleidigt. »Du hast mich doch hier reingezerrt, du hast mich quasi missbrauchtÉ«
»Das ist mein Zimmer, Charles, ich dachte, du wärst Frank, was glaubst du denn?«
»Wie kannst du mich bloß mit Frank verwechseln?« Ich stopfte mein Hemd in die Hose. »Franks Handgelenke sind wie Feuerlöscher, und dann dieser ganz eigene GeruchÉ«
»Feuerlöscher?« Ihre Stimme klang jetzt ziemlich erregt. »Was ist los mit dir, Charles? Wo ist Frank?«
»Ich dachte, er wäre bei dir.« Obwohl es auf der Hand lag, wo er war: Er war unten und raffte Familienerbstücke zusammen. Laura half ihm wahrscheinlich, hinreichend begeistert über die Pracht war sie ja gewesenÉ
»Bleib hier stehen.« Bel drückte sich vorsichtig an mir vorbei in den Flur. »Und noch was, Charles, rühr mich nie mehr an, verstehst du, nie mehr.«
»Ja, ja, schon gut«, sagte ich, während sich ihre undeutliche Gestalt auf die Treppe zubewegte. »Unnötig aufblasen brauchst du die Geschichte nun auch wieder nicht. Nimm es als das, was es war, als simples Versehen.«
»Bleib einfach da stehen.« Sie hatte die oberste Stufe fast erreicht. Dann rannte sie laut nach Frank rufend schnell die Treppe hinunter.

I
ch weiß zwar nicht mehr genau, wie ich dort hinkam, jedenfalls fand ich mich in Vaters Arbeitszimmer wieder. Ich schwankte zum Fenster, schob es nach oben und sackte über der Fensterbank zusammen. Ich rieb mir die Augen. Der Alkohol wütete in meinem Kopf wie ein Tropensturm. Mein Geist quälte mich mit bruchstückhaften Sinneseindrücken: dem Geschmack ihres Lippenstifts, dem leisen Klacken ihrer Zähne - igitt. Ich atmete die Nachtluft ein und schüttelte heftig den Kopf, aber eine Art grässlichen, rückwirkenden Prozesses war in Gang gesetzt worden, der mir die Ereignisse des Abends noch einmal vorführte wie einen gespenstischen Karneval: der hepatische Glanz eines Bronzebuddhas auf der Anrichte, Bels geisterhafter Arm um Franks Schulter, leblose, klebrige Austern in ihren Schalen.

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 01.04.2006