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Gewerkschaften stellen
Chirac ein Ultimatum

Bisher stärkste Massenproteste und erneut Krawalle

Paris (dpa). Nach den bisher stärksten Massenprotesten haben die französischen Gewerkschaften Präsident Jacques Chirac zur raschen Rücknahme der umstrittenen Arbeitsrechtsreform aufgefordert und mit Generalstreik gedroht.

Gewerkschaften sowie die Organisationen der Schüler und Studenten haben Chirac und Premierminister Dominique de Villepin nach der dritten nationalen Protestwelle dafür bis heute Zeit gegeben. Dann wollen sie über ihr weiteres Vorgehen beraten. Am Samstag hatten Hunderttausende gegen Villepins Reform demonstriert. Nach den Kundgebungen kam es wie in den vergangenen Tagen wieder zu Krawallen und Ausschreitungen.
Chirac und Villepin trügen »die volle Verantwortung für die sozialen Spannungen« im Land, die umkämpfte zweijährige Probezeit für Arbeitnehmer unter 26 Jahren müsse vom Tisch, erklärten Verbände und Gewerkschaften nach der Mobilisierung. Nach Gewerkschaftsangaben demonstrierten am Samstag 1,5 Millionen Menschen, in Paris allein 350 000. Das Innenministerium zählte dagegen 503 600 Demonstranten, 80 000 in der Hauptstadt. Bei Protesttag am 7. März hatte die Polizei 400 000 errechnet, die Gewerkschaften eine Million.
»Es muss etwas geschehen, die Stabilität des Landes ist drei Monate nach den Jugendunruhen in den Vorstädten in Gefahr«, warnte Sozialistenchef François Hollande. Alle Linksparteien hatten sich dem nationalen Protesttag angeschlossen. »Die Hand ist ausgestreckt, die Tür offen«, bekräftigte Regierungssprecher Jean-François Copé die Bereitschaft, das Gesetz zu verbessern. Villepin und Chirac haben es strikt abgelehnt, den »Ersteinstellungsvertrag« (CPE) zurückzunehmen. »Wenn Villepin sich nicht bewegt, müssen mehrere Gewerkschaften zum übergreifenden Streiktag aufrufen«, forderte der Generalsekretär der Force Ouvrière, Jean-Claude Mailly, gestern eine »Beschleunigung«.
In einer Reihe von Städten kam es am Samstag zu Zwischenfällen, vor allem erneut in der Hauptstadt Paris. Nach den Kundgebungen lieferte sich die Polizei mit Krawallmachern Auseinandersetzungen, die Sicherheitskräfte setzten Tränengas und Wasserwerfer ein. 167 Randalierer wurden nach Polizeiangaben in Paris festgenommen, 70 von ihnen waren am Sonntag noch in Polizeigewahrsam. Verletzt wurden 34 Polizisten und 18 Demonstranten. Scheiben gingen im Osten der Stadt zu Bruch, Autos in Flammen auf, Randalierer bauten Barrikaden. Die letzten Demonstranten verließen gegen Mitternacht das Uni-Viertel.
In mehreren Städten blockierten Demonstranten Bahnhöfe. So griff in Nancy die Bereitschaftspolizei CRS ein, um die von Demonstranten blockierten Gleise zu räumen.
Nach Umfragen wollen 68 Prozent der Franzosen eine Rücknahme der Reform. Mit ihr will Villepin die hohe Arbeitslosigkeit in der jungen Generation angehen. Sie erreicht in Problemvierteln bis 40 Prozent.
Vor dem Protesttag hatten Universitätsrektoren Villepin aufgefordert, das Gesetz auszusetzen und in den kommenden sechs Monaten einen breiten Dialog über die Jugendarbeitslosigkeit zu beginnen. Villepin habe dabei den Eindruck erweckt, er sei zu einer »bedeutsamen Geste« bereit, um den Konflikt zu entspannen, hieß es.
Die Mitte Januar begonnene Auseinandersetzung um das Reformgesetz hat den engen Chirac-Vertrauten in der Beliebtheit markant abstürzen lassen. Villepin ist seit zehn Monaten im Amt und sieht sich als Präsidentschaftskandidat für die Wahlen im Frühjahr 2007. Seite 2: Leitartikel

Artikel vom 20.03.2006