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»Solidarität muss Leitlinie
für Kapital und Arbeit sein«

Im Gespräch: Erzbischof Hans-Josef Becker, Paderborn

Paderborn (WB). Für eine Politik, die stärker an christlichen Grundwerten orientiert ist, spricht sich der Paderborner Erzbischof Hans-Josef Becker aus. Im Gespräch mit Reinhard Brockmann sagt er, wo der Bundespolitik Tiefgang fehlt.
Gemeinsame Politik, getragen von großer Übereinstimmung der zwei Volksparteien, das dürfte im Sinne der Kirche sein... Becker: Ich bin überrascht, wie schnell die neue Bundesregierung nach den Koalitionsverhandlungen Arbeitsfähigkeit erlangt hat. Die Große Koalition sollte allerdings nicht etwas Normales sein. Angesichts der gewaltigen Herausforderungen und Probleme des Staates darf man aber doch die Erwartung haben, dass jetzt Sachprobleme gelöst werden.

Die ersten 100 Tage erlauben ein erstes Urteil. Zufrieden? Becker: Es gibt Schritte in die richtige Richtung. Die sich auf Generationen hin auswirkende desolate Finanzlage wird nicht tabuisiert, und die Familienpolitik, die ich für dringlich halte, wird angegangen. Gerade hier muss man zu Handlungsschritten kommen, die den Schutz und den Wert der Familie hervorheben - und das nicht nur, weil die Familie eine sinnvolle ökonomische Größe ist. Es wird in der politischen Diskussion zu selten die Frage gestellt: Worin sehen wir den Wert der Familie? Für alle Felder gilt: Ökonomie darf nicht die Leitwährung sein für alles.

Bundeskanzlerin Angela Merkel erntet Sympathie: Wird der gute Eindruck länger reichen?Becker: Seit fast einer Generation leben wir schon auf Kosten der nächsten. Es gelingt der neuen Kanzlerin, die Menschen in wichtige Themen einzubinden und auch zu zeigen, wo es lang geht. Außenpolitisch kann sie durchaus besondere Anerkennung vorweisen. Für die Innenpolitik hoffe ich, dass noch einiges geschieht.

Die Worte »Gott«, »Kirche«, »katholisch«, »evangelisch« kennt der Koalitionsvertrag nicht. Große Koalition, kleine Werte? Becker: Ein Koalitionsvertrag ist kein Glaubensbekenntnis. Ich hätte mir allerdings deutlichere Aussagen gewünscht bezüglich der Verantwortung politischen Handelns vor Gott. Wir brauchen uns unseres Grundgesetzes nicht zu schämen. Wir können nicht nur abhängig von der augenblicklichen Wählergunst und der Stimmung im Lande Wertorientierung beziehen. Der Dichter Dostojewski hat einmal gesagt: »Wenn es Gott nicht gibt, dann ist alles erlaubt.« Solche Gedanken dürfen nicht hinter den Horizont zurückfallen. Das gilt insbesondere für den Schutz des Lebens. Auf diesem Gebiet bin ich schon enttäuscht.

Im Koalitionsvertrag ist für die kommenden vier Jahre lediglich vereinbart zu »prüfen, ob die Situation bei Spätabtreibungen verbessert werden kann«. Becker: Eine Rechtslage, die Abtreibungen - selbst nach dem dritten Monat noch! - zulässt, ist schlicht skandalös. Das dürfen wir nicht hinnehmen. Grundsätzlich gilt: Es kann keine Berechtigung zur Abtreibung geben, es sei denn, das Leben der Mutter ist in Gefahr. Wir haben hier längst eine Hemmschwelle überschritten.

Die im Koalitionsvertrag genannten Spätabtreibungen stehen für dramatische Ausnahmefälle. Nicht erwähnt wird die De-facto-Fristenregelung in mehr als 100 000 Fällen, obwohl das Verfassungsgericht Klarheit verlangt. Becker: Abtreibung ist vom Gesetzgeber her verboten und wird gleichzeitig straffrei gestellt. Hier ist so viel Nivellierung im Spiel, dass der Unterschied kaum noch gesehen wird. Die Nöte, die ein ungewolltes oder ein behindertes Kind bei den Eltern auslöst, sehe ich auch. Aber es ist ein Skandal, dass wir nicht in der Lage sind, anders als mit der Tötung eines Menschen auf diese Herausforderung zu reagieren.
Der Umgang mit dem Beginn und dem Ende des menschlichen Lebens macht mir große Sorgen. Ich bin auf diesem Gebiet mit der Meinungsbildung und einzelnen Äußerungen auch aus der Union nicht zufrieden, im Gegenteil: Ich bin da sehr besorgt.

Das »C« bei der CDU müsste deutlicher werden? Becker: Ja, man sollte nicht nur stillschweigend davon ausgehen, von welchem Menschenbild und von welchen Werten eine Partei geprägt ist. Theoretisch dürften die Buchstaben »C« bei der Union und »S« bei der SPD gar nicht so weit auseinander liegen. Das Soziale ist ein gemeinsames Interesse - unabhängig davon, ob das jemand christlich begründet oder nicht.
Mir wird hier zu viel auf Akzeptanz geschielt. Es fehlt an Anregungen, die grundlegenden Fragen des Lebens zu besprechen. Wenn die Kunst des Möglichen eine Kompromissgröße ist, wäre das fatal.
Ich wünschte mir klarere Worte, dann hätte diese Koalition ein noch besseres Fundament und könnte in strittigen Fragen der Gesellschaft wirkliche Orientierung geben.

Auch Sterbehilfe ist kein Thema im Koalitionsvertrag. Becker: Ich hätte mir die eindeutige Ablehnung aktiver Sterbehilfe gewünscht. Wir brauchen nicht den instrumentalisierten Arzt, der einfach nur den Willen des Patienten ausführt. Dieses Nichtbefassen mit dem Thema ist bei mir eine Quelle von Unzufriedenheit, die ich nicht leugnen kann.
Der kirchliche Standpunkt ist in dieser Frage eindeutig: Wir können über Anfang und Ende des Lebens nicht verfügen! Es ist fatal, wenn auch aus der Union - wie etwa in den Äußerungen des Hamburger Justizsenators Roger Kusch - Überlegungen zur Aufweichung des Verbots der aktiven Sterbehilfe laut werden. Hier werden Tür und Tor für eine Entwicklung geöffnet, die auf die Dauer nicht mehr zu kontrollieren ist. An dieser Stelle gibt es für mich nichts zu diskutieren! Unglücklich bin ich darüber, dass es auch den Wohlfahrtsstaaten noch nicht gelungen ist, in der Schmerztherapie vor allem bei sterbenskranken Menschen Fortschritte erzielt zu haben.

In Grundsatz-Debatten wird oft gesagt, was nicht sein soll. Stimmen, die klare Werte vorgeben, scheint es auf der politischen Bühne kaum zu geben. Becker: Es gibt sie, aber man hört sie zu wenig: die Stimmen, die nicht nur warnen, sondern auch klar sagen, dass man nicht über das Leben verfügen darf, dass Solidarität Leitlinie für Kapital und Arbeit sein muss und dass Globalisierung keine Entschuldigung sein kann.

Artikel vom 25.03.2006