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Das Unfassbare
wird langsam
zur Gewissheit

Inzest-Stück in den Kammerspielen

Von Manfred Stienecke
Paderborn (WB). Einer heiklen Aufgabe stellen sich die Westfälischen Kammerspiele mit ihrer jüngsten Produktion »Schreib mich in den Sand«. Sie bringen den Inzest in einer Familie auf die Bühne.

Die Paderborner Umsetzung des Stoffes der niederländischen Autorin Inez van Dullemen verdient allerhöchsten Respekt. Regisseurin Katarina Kokstein und ihrem Ensemble gelingt eine eindringliche und zupackende, dabei äußerst sensible Bühnenlösung, die das schwierige Thema deutlich anspricht und die Folgen in den Blick nimmt.
Das 1989 in Holland uraufgeführte Stück führt in das zerbrochene Idyll einer kleinbürgerlichen Durchschnittsfamilie - Ausstatterin Monika Frenz wählt dazu das Bühnenbild einer spießigen Wohnung aus den siebziger Jahren mit Glasbaustein-Eingangstür, poppiger Streifentapete und Schleiflack-Küche. In dieser »Puppenstube« hat sich das Unfassbare zugetragen: Vater Ludwig hat über Jahre seine ältere Tochter Anne missbraucht.
Das Stück setzt nach der tragischen Katastrophe ein: Anne, die an den Zumutungen zerbrochen ist, hat sich erhängt, der Vater ist mittlerweile ein Pflegefall und sitzt im Rollstuhl, die Mutter bereitet den Auszug aus der Wohnung vor, um die schrecklichen Erfahrungen zu verdrängen. In dieser resignativen Situation kommt die jüngere Tochter Judith, längst erwachsen und selbst schwanger, in ihr Elternhaus und entdeckt bei den Aufräumarbeiten die Tagebücher ihrer aus dem Leben geschiedenen Schwester. Damit kommt das in der Familie bis dahin verschwiegene Unrecht ans Tageslicht.
Inez van Dullemen erzählt die Geschichte in rückblickartigen Traum-Sequenzen, die das verdrängte Geschehen schrittweise aufhellen. Das Schicksal des missbrauchten Mädchens wird so schubweise nachvollziehbar - vom unschuldigen verspielten Kleinkind, das vom leiblichen Vater auf so unfassbare Weise gequält und gedemütigt wird, über die heranwachsende junge Frau, die sich des Missbrauchs langsam bewusst wird, bis hin zum seelischen Wrack, das auch unter psychologischer Betreuung nicht wieder ins Leben zurück findet.
Birgit von Rönn als Anne gelingt eine packende Darstellung des gepeinigten Mädchens bis hin zur verstörenden hysterischen Reaktion auf das Erlebte. Sie lässt nachfühlen, wie durch den Inzest praktisch alle Antriebskräfte gelähmt werden. »Mein Leben gehört auf die Müllkippe«, fühlt sie sich schmutzig und ausgestoßen. Julia Wagner-Hohenlobbese gibt ebenfalls eine glänzende Vorstellung als den Vorfall allmählich realisierende Schwester, die vor allem ihre Mutter (Isabel Zeumer), die das Geschehen feig verdrängt, zur Verantwortung zieht. Wolfgang Finck hat die undankbare Aufgabe, dem bis zuletzt uneinsichtigen Vater ein Gesicht zu geben. In Nebenrollen agieren Dominic Gutsche und Christian Onciu.
Das Premierenpublikum spendete lang anhaltenden anerkennenden Schlussapplaus für eine Inszenierung, die man auch Heranwachsenden zumuten möchte.

Artikel vom 18.03.2006