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Fortsetzung von
Seite 6:
 Dies aber, indem sie einen Sinn von »frei« geschaffen haben (sog. kompatibilistische Freiheit), mit dem man sagen kann, dass eine Handlung frei ist, auch wenn sie Ergebnis eines kausalen Prozesses ist. Sie nennen eine Handlung frei, sobald der Handelnde tut, was er will, auch wenn es determiniert ist, was er will. Diese Auffassung vertreten sie, weil sie an die Determinismusthese glauben, aber auch Freiheit und Verantwortlichkeit nicht leugnen wollen. Doch prüfen wir erstmal, ob wir überhaupt an die Determinismusthese glauben sollen.

Wenn die Determinismusthese falsch ist und es freien Willen gibt, dann können Menschen (oder auch Tiere) kausale Prozesse in Gang setzen. Wenn jemand frei seinen Arm hebt, dann ist das Hochgehen des Armes durch die Muskeln verursacht; die Muskeltätigkeit ist durch Nervenereignisse verursacht, und so fort, und an irgendeinem Punkt wurde dieser Prozeß durch ein Ereignis in Gang gesetzt, das keine vorangehende Ursache hatte, sondern direkt durch den Handelnden geschehen ist. So ein Ereignis ist also nicht das Ergebnis eines Prozesses, sondern es geschieht durch die Entscheidung eines Handelnden. Freie Handelnde können Ereignisse eintreten lassen.

Wenn Menschen frei sind, dann sind sie aus folgendem Grunde nur eingeschränkt frei. Vernunftwesen können Gründe für ihre Handlungen haben. Sie können Gründe für bestimmte Handlungen erkennen, können Gründe abwägen und im Lichte von Gründen handeln. Wir Menschen aber werden offensichtlich nicht nur durch Gründe zum Handeln bewegt, sondern auch durch Neigungen. Wir sind Neigungen und Leidenschaften wie Hunger, Sexualtrieb und Habgier ausgesetzt, die uns manche Handlungen leichter und andere schwerer machen. Manche Neigungen sind gut, z.B. die Neigung, das eigene Kind zu versorgen, oder der auf den Ehegatten gerichtete Sexualtrieb. Ihnen nachzugehen ist gut und bringt Freude.

Andere Neigungen sind schlecht, ihnen nachzugeben ist verwerflich. Zum Beispiel die Neigung, den Besitz eines anderen an sich zu reißen, oder den auf einen anderen als den Ehegatten gerichtete Sexualtrieb. Eine Neigung zu etwas Schlechten nennt man eine »Versuchung«. Wir können Neigungen, wenn wir freien Willen haben, aber widerstehen und ihnen entgegen handeln. Die Kraft und die Bereitschaft, schlechten Neigungen zu widerstehen und das Gute auch zu tun, wenn es schwerfällt, nennt man Tugend. Ein tugendhafter Mensch ist einer, der solche Kraft und Bereitschaft hat.

Eine Person, die nur aus Gründen handelt und von nichts anderem beeinflußt wird, wäre vollkommen frei. Eine Person hingegen, die unweigerlich ihren Neigungen und Leidenschaften folgt, wäre unfrei. Einen »Triebtäter« bestraft man deshalb milder oder gar nicht, so wie man ja auch ein Tier nicht bestraft, wenn es einem anderen Tier die Beute stiehlt. Wenn der Mensch überhaupt freien Willen hat, dann nimmt er eine Zwischenstellung ein. Sein freier Wille ist durch Neigungen und Leidenschaften eingeschränkt, aber er hat doch insofern freien Willen, als er sich seinen Neigungen und Leidenschaften widersetzen kann.

Der verbreitetste Einwand gegen den freien Willen ist, dass der Gedanke des Ingangsetzens eines kausalen Prozesses durch Menschen widersprüchlich und mysteriös sei.
Der verbreitetste Einwand gegen den freien Willen ist, dass der Gedanke des Ingangsetzens eines kausalen Prozesses durch einen Menschen widersprüchlich und mysteriös sei. Doch was heißt da mysteriös? Ist es mysteriöser, dass ein Ereignis durch einen Handelnden direkt hervorgebracht wird als dass es von einem früheren Ereignis verursacht wird? Es ist nur mysteriös, wenn man voraussetzt, dass jedes Ereignis eine volle vorangehende Ursache hat. Doch warum sollte man das glauben? Wenn es freie Handelnde gibt, ist es eben nicht so. Und ob wir an die Existenz von freien Handelnden glauben sollen, hängt davon ab, ob es gute Argumente dafür gibt. Es gibt solche Argumente, und hier ist eines davon.
Wäre die Determinismusthese wahr, ließen sich theoretisch alle Handlungen vorhersagen, wenn man nur den Gehirnzustand eines Menschen und die Gesetzmäßigkeiten genau genug kennte. Also wäre es möglich, dass man einem Menschen aufgrund der Kenntnis des Zustands seines Gehirns zum Zeitpunkt t1 sagte, ob er in einer Minute, zum Zeitpunkt t2, seinen Arm anheben wird. Man könnte wissen, in welchem Zustand sein Gehirn (nach dieser Mitteilung) ist und was er daher zum Zeitpunkt t2 tun wird. Doch wenn wir uns in die Situation dieses Menschen versetzten, wird uns klar, dass er so oder so handeln könnte. Er könnte der Vorhersage zuwider handeln. Er hat die Wahl, ob er der Vorhersage gemäß handeln möchte oder ob er, etwa um die Hirnforscher zu ärgern, die Vorhersage Lügen straft. Entgegen der Determinismusthese ist also sein Verhalten nicht durch vorangegangene Gehirnzustände determiniert.

Doch auch ohne solche Argumente sollten wir den Aussagen von Singer und Roth skeptisch gegenüberstehen. Wie sollte denn die Hirnforschung herausfinden, dass die Determinismusthese wahr ist? Hätte sie für alle im normalen Leben eines Menschen im Gehirn auftretenden Ereignisse vorangehende Ursachen beobachtet und Gesetzmäßigkeiten entdeckt, mit deren Hilfe sich alle Gehirnereignisse voraussagen lassen, dann würde das die Determinismusthese stark stützen. Doch ist angesichts der Komplexität des menschlichen Gehirns zu erwarten, dass die Hirnforschung das jemals können wird? Für jedes als Ursache identifizierte Ereignis müßte wieder eine Ursache gefunden werden, bis man den kausalen Prozess bis zu physischen Ereignissen außerhalb des Gehirns zurückverfolgt hat. Es sieht nicht so aus, als hätte die Hirnforschung eine vollständige Liste solcher Prozesse.

Im Gegenteil, der Hirnforscher John Eccles beschreibt in seinem Buch »Wie das Selbst sein Gehirn steuert« (erschienen bei Piper 1994) Ereignisse im Gehirn, deren vorangehende Ursache man beobachten müsste, aber nicht beobachtet. Eccles hält es daher für wahrscheinlich, dass sie direkt vom Handelnden hervorgebracht werden.

Häufig werden in der Diskussion (etwa von Gerhard Roth) die von Benjamin Libet in den siebziger Jahren durchgeführten Experimente als Beleg für die Determinismusthese angeführt. Libet untersuchte, was bei Handbewegungen von Menschen im Gehirn geschieht. Er sagte den Versuchspersonen, sie sollten ihre Hand bewegen, sobald sie einen Drang dazu verspürten. Dann wurden die Zeitabstände zwischen Handbewegung, dem bewussten Drang, die Hand zu bewegen, und einem so genannten Bereitschaftspotential im Gehirn gemessen.

550 Millisekunden vor der Bewegung wurde ein Bereitschaftspotential im Gehirn gemessen, und 200 Millisekunden vor der Bewegung verspürten die Versuchspersonen einen Drang zur Handbewegung. Das Gehirnereignis findet also vor dem Bewußtseinsereignis statt. Schlußfolgerung: Handlungen sind durch Gehirnprozesse determiniert, denn andernfalls müsste das Gehirnereignis nach dem Handlungsdrang stattfinden.

Hier sind zwei Einwände gegen diese Schlussfolgerung. Erstens setzt sie voraus, dass das Bewußtseinsereignis, das 200 Millisekunden vor der Handbewegung beobachtet wird, die Handlungsentscheidung ist. Roth nennt es den (vermeintlichen) »Willensruck«, Habermas den »Entschluss«. Daher ziehen Roth und Habermas den Schluss, dass unsere Handlungen die Ergebnisse von kausalen Prozessen sind. Doch es spricht einiges dafür, dass dieses Bewusstseinsereignis nicht der Entschluß, sondern das Bewusstwerden eines Dranges ist. Das endgültige Ingangsetzen des Bewegungsprozesses beginnt erst nach diesem Bewusstwerden.

Zweitens ist unumstritten, dass der Handelnde nach dem Eintreten eines Bereitschaftspotentials ein Veto einlegen und die Hand stillhalten kann. Es ist nicht so, dass man einen zur Handlung führenden deterministischen Prozess entdeckt hätte, der beginnt, bevor der Handelnde sich zur Handlung entschließt, und den der Handelnde nicht stoppen könnte. Schon deshalb belegen Libets Experimente nicht die Determinismusthese.

Jedenfalls gibt uns die Hirnforschung keinen guten Grund dafür, die Determinismusthese für wahr zu halten. Wem es scheint, dass er und seine Mitmenschen frei sind, der soll das vernünftigerweise - entgegen den Äußerungen einiger Hirnforscher - weiter annehmen.

Artikel vom 18.03.2006