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Heiße Duelle in der Höhe:
zwei Spiele des Jahrhunderts

Die WM 1970 in Mexiko: Deutschlands Klassiker gegen England und Italien

Von Klaus Lükewille
Mexiko-City (WB). Franz Beckenbauer sieht seinen Kapitän heute noch vor sich. »Unvergesslich dieses Gesicht von Uwe Seeler. Der Kopf war knallrot. Ich dachte: Gleich platzt der arme Kerl.« Von wegen. »Uns Uwe« hielt selbstverständlich durch und war 1970 in Mexiko einer der Hauptdarsteller in zwei unvergesslichen WM-Partien.

Glühende Hitze, mehr als 2000 Meter Höhe. Diese Extrem-Bedingungen hatte es vorher bei einer Endrunde noch nie gegeben. »Wir schwitzten schon beim Frühstück«, stöhnt Karl-Heinz Schnellinger noch heute, der dann lächelnd zurück blickt: »Und ich alter Esel wollte unbedingt meine vierte Weltmeisterschaft spielen. In diesen Glutöfen. Verrückt.«
Wie zwei Partien, die der Verteidiger dann mit der deutschen Mannschaft absolvierte. Und Schnellinger ist inzwischen natürlich stolz und glücklich, damals dabei gewesen zu sein. Das Viertelfinale gegen England und das Halbfinale gegen Italien - zwei Jahrhundert-Spiele innerhalb von nur drei Tagen. Das gab's nur einmal, das passiert nie wieder.
High noon. Um zwölf Uhr mittags wurde am 14. Juni 1970 das Duell gegen den Titelverteidiger angepfiffen. Die heiße Revanche für die finale Niederlage von Wembley. Dazu passten die äußeren Bedingungen. Im Stadion von Leon wurden 50 Grad gemessen.
Dann aber lief es den deutschen Zuschauern eiskalt über den Rücken. 32. Minute: 0:1 Mullery. 50. Minute: 0:2 Peters. Alles schon aus und vorbei? Das dachte Sir Alf Ramsey. Doch Englads Trainer sollte sich irren. Und zwar gewaltig. Er holte Bobby Charlton vom Rasen, wollte seinen Regisseur schon für das Halbfinale schonen.
Ein folgenschwerer Fehler. Denn eine deutsche Mannschaft hat noch nie aufgegeben. Auch nicht bei 0:2. Wie damals, 1954 in Bern, im Endspiel gegen die Ungarn. Da hieß es am Ende auch noch 3:2. WM-Geschichten wiederholen sich - manchmal.
Leon erlebte eine solche Stunde. Franz Beckenbauer sorgte für den Anschlusstreffer. Dann kam Uwe Seelers großer Moment. Mit einem Hinterkopf-Kopfball schaffte er zehn Minuten vor dem Abpfiff den Ausgleich. Verlängerung. Und die Engländer wurden immer langsamer, immer schwächer, immer müder. Gerd Müller war dagegen hellwach. Er markierte in der 108. Minute das entscheidende 3:2.
Deutschland im Halbfinale - und Helmut Schön in Spendierlaune. Der Bundestrainer sah am Abend nach dem Triumph nicht mehr so genau hin, wie viele Bierchen da über den Tisch gingen. Denn 72 Stunden später waren seine Spieler alle wieder voll da - und selbstverständlich stocknüchtern. Anpfiff im Atzteken-Stadion von Mexiko-City. Deutschland oder Italien, wer schafft den Sprung ins Endspiel?
Die Italiener sahen schon wie der sichere Sieger aus. Boninsegna hatte bereits nach acht Minuten den Führungstreffer erzielt. 1:0. So ein Ergebnis schaukeln die Abwehr-Asse normalerweise immer nach Hause. Es lief bereits die Nachspielzeit, da passierte es doch noch. 1:1. »Schnellinger, ausgerechnet Schnellinger«, brüllte Fernseh-Reporter Ernst Huberty in sein Mikrofon. Denn Schnellinger verdiente sein Geld als Profi in Italien - und war jetzt für die Verlängerung »verantwortlich«.
Was dann in den nächsten 30 Minuten passierte, gehört in die Kategorie »Herzschlag-verdächtig«. Die dramatische Torfolge sagt mehr als tausend Spielberichte. 2:1 Müller. 2:2 Riva. 2:3 Burgnich. 3:3 Müller. 3:4 Rivera.
Zwei Mannschaften am Rande der Erschöpfung. Ausgelaugt und angeschlagen. So musste Beckenbauer mit einem Muskelriss in der Schulter durchhalten. Alle hatten sie an diesem Tag alles gegeben. Und natürlich auch wieder Uwe Seeler, der mit hochrotem Kopf den Rasen räumte. Das war jetzt nicht nur ein Zeichen der völligen Verausgabung - sondern auch der Wut über das verpasste Finale.

Artikel vom 01.04.2006