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Der »Tor-Fall« von Wembley:
Fußball-Aktenzeichen ungelöst

Die WM 1966 in England: Linienrichter Tofik Bakramov und seine finale Rolle

Von Klaus Lükewille
London (WB). Es geschah in der 101. Spielminute. Geoff Hurst hatte geschossen. Der Ball sprang von der Unterkante der Latte auf den Rasen zurück. Ins Tor? Die Deutschen reklamierten, die Engländer jubelten. 3:2? Fernseh-Reporter Rudi Michel war nicht ganz sicher. Sein Kommentar: »Nicht im Tor. Kein Tor. Oder doch? Jetzt: Was entscheidet der Linienrichter?«
Enttäuscht und geschlagen: Uwe Seeler räumt den Wembley-Rasen.

Denn auch Gottfried Dienst, der Schiedsrichter aus der Schweiz, hatte es nicht genau gesehen. Deshalb lief er sofort zu seinem Assistenten. Ein kurzes Gespräch mit Tofik Bakramov, dann das eindeutige Signal Richtung Anstoßkreis. Tor. 3:2 für England. Wobei interessant gewesen sein dürfte, wie sich die Unparteiischen damals verständigten. Denn Bakramov konnte nur russisch und türkisch. Sprachen, die Dienst nicht beherrschte. Heute egal, das Tor zählte. Die Deutschen bestürmten den Linienrichter aus der Sowjetunion, aber sie sollten vergeblich protestieren.
Ein Treffer, der sehr wahrscheinlich gar keiner war, er wurde anerkannt. Ein Tor, das den Engländern an diesem 30. Juli 1966 im Wembley-Stadion die Tür zu ihren ersten und bislang einzigen WM-Triumph öffnen sollte. Hurst legte später noch das 4:2 nach, doch das war nur Ergebnis-Kosmetik. Entscheidend sollte dieses bis heute umstrittene 3:2 sein.
Das Wembley-Tor. Ein »treffliches« Kapitel Sport-Geschichte. Ein ewiger Streitpunkt.
Auch nachträgliche Untersuchungen haben den Fall nie klären können. Landete das Leder nun vor, auf oder hinter der Linie? Sogar Mathematiker und Physiker waren hier mit am Ball, sie kamen zu keiner eindeutigen »Formel«.
Tor? Oder kein Tor?
Das ist die Frage - bis zum heutigen Tage. Noch vierzig Jahre danach. Die Engländer, die großen Gewinner, sie »erkannten« selbstverständlich alle auf Tor. Sofort. Wie Sir Stanley Rous, der damalige FIFA-Präsident: »Das strittige dritte Tor, es war regulär.« Und auch Geoff Hurst, der Schütze, der unmittelbar am »Tatort« gestanden hatte, er gab zu Protokoll: »Ich bin sicher: Der Ball war drin.«
Und was sagte damals der am 1. Juni 1998 verstorbene Gottfried Dienst, der an dem Endspiel-Tag verantwortliche Schiedsrichter?
Ein paar Wochen später wurde ihm diese finale Frage noch einmal gestellt. Die Dienst-Antwort - keine klare Dienst-Anweisung: »Ich weiß auch heute noch nicht, ob der Ball hinter der Linie aufschlug. Und wenn sie mich nach hundert Jahren wieder ausgraben, und ich komme neu auf die Welt, dann weiß ich es immer noch nicht.«
So ist es. So wird es bleiben. Den endgültigen und definitiven Beweis wird es nicht mehr geben. Der Tor-Fall von Wembley - ein Fußball-Aktenzeichen »ungelöst«.
Selbst Fotografen, die hinter Hans Tilkowskis Kasten saßen, sie lieferten anschließend völlig verschiedene »Bilder« ab. Und es kam da natürlich auch immer ein bisschen auf die nationale Sichtweise an. Der Engländer Jimmy James: »Von meinem Standpunkt aus ein klares Tor.« Der Deutsche Erich Baumann: »Der Ball war nie im Tor. Ich sah ihn knapp 20 Zentimeter vor der Linie aufspringen.« Und ein Neutraler, der Schweizer Mete Razliki: »Der Ball war eindeutig vor der Linie.«
Also doch? Kein Tor? Deutschland verpfiffen und betrogen? So weit ging damals keiner. Im Gegenteil. Bundestrainer Helmut Schön zeigte sich als fairer Verlierer: »England ist ein würdiger Weltmeister. Aber wir hätten das Endspiel auch gewinnen können. Und das dritte Tor: Es war sicher sehr, sehr schwer, diese umstrittene Entscheidung in so sportlicher Haltung hinzunehmen. Das ist meinen Spielern in vorbildlicher Art und Weise gelungen.«
Denn als alles vorbei war, als Dienst die Partie nach 120 Minuten abgepfiffen hatte, da gratulierten die Deutschen. Alle. Auch Torwart Hans Tilkowski, der noch heute felsenfest davon überzeugt ist: »Kein Tor, niemals. Ich habe den Ball mit den Fingerspitzen berührt und an die Latte gelenkt.«
Nur einer in der Heimat, der hatte es anders gesehen. Ausgerechnet das Staatsoberhaupt. Denn als Bundespräsident Heinrich Lübke den Spielern Wochen später das »Silberne Lorbeerblatt« überreichte, da »traf« er den Verlierer noch einmal: »Meine Herren, der Ball war drin.« Also doch?

Artikel vom 25.03.2006