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Abstecher auf den Hinterhof
und andere Reiseerlebnisse

Weltmeisterschaft 1994 in den USA: Nur der Fußball war kein Abenteuer

Von Friedrich-Wilhelm Kröger
Chicago (WB). Vom See her weht ein Lüftchen, und dies muss auch Berti Vogts sogleich gespürt haben. Die deutsche Mannschaft logiert in Chicago. Das Soldier Field, in dem sie zwei ihrer Vorrundenspiele und später auch das Achtelfinale austragen wird, liegt in Wassernähe. Der Bundestrainer fordert vor dem Einstieg ins Turnier: »Wir müssen die frische Brise vom Michigan-See erwischen.«
Der Trainer und der Verbannte: Berti Vogts mit Stefen Effenberg, der vorzeitig aus dem Team flog.
Dieser Satz ist für immer abgespeichert. Deshalb, weil Vogts ihn mit seinem rheinischen Dialekt färbte und sich die »frische« Brise bei ihm mehr nach »fricher« Brise anhörte, die »erwicht« werden musste. Bei »Michigan« blieb es unter diesen sprachlichen Umständen. »Mischigan« würde der Amerikaner sagen. Bei einem Korschenbroicher kommt es etwas anders über die Lippen. Und wenn sie, liebe Leser, es nun selbst einmal versuchen nach Vogts zu klingen, werden sie feststellen, dass erst die drei »ch« in Serie seinem Ausspruch den unverwechselbaren Berti-Charme geben.
Die Brise brachte die Deutschen immerhin bis vor die Tore von New York, wo sie dann im Giants Stadium trotz einer 1:0-Führung im Viertelfinale gegen Bulgarien das Halbfinale noch mit 1:2 verpassten. Sie hatten den kleinen Häßler hinten gelassen, den Kopfballtreffer von Letchkow konnte »Icke« natürlich nicht verhindern.
Aber daran lag es nicht allein. Zuvor hatte Möller den Pfosten getroffen, Völler den Abpraller reingedrückt. Es wäre das 2:0 gewesen. Doch leider hatte der Linienrichter eine Fahne. Abseits.
Am anderen Morgen trat Vogts einsam und allein zum Zusammenkehren der Scherben an, seine Mannschaft war verschwunden. Schon 10 Tage vorher reichte Stefan Effenberg den Abschied ein, auf Befehl von oben. In der Gluthitze des dritten Vorrundenspiels gegen Südkorea in Dallas hatte es der Spieler gewagt, den Anhängern seinen Ausdruck der Missachtung zu präsentieren. Die Deutschen waren nach einem 3:0-Vorsprung noch in schwerste Turbulenzen geraten, die Fans murrten. Da streckte ihnen Effenberg den Mittelfinger entgegen. Ein Handzeichen, das nicht folgenlos bleiben konnte: DFB-Chef Egidius Braun bereinigte den Störfall mit der umgehenden Verbannung des frechen Jungen.
Alle waren nervös, man ahnte schon, dass der Titelverteidiger keine ganz große Weltmeisterschaft abliefern würde. Das Turnier kämpfte darüberhinaus mit dem Gastgeber und seinen eigenwilligen Gewohnheiten. Die Amerikaner gingen während der Spiele nach Belieben Popcorn kaufen, Hamburger essen oder Cola trinken. Vor allem wunderten sie sich: »Ist das hier dieser komische Sport, den ihr da drüben in Europa Fußball nennt und der euch so Bauchkribbeln macht?«
Besonders beim Finale fiel dem Befragten darauf nun wirklich keine passende Antwort ein. Die vierwöchige WM-Tournee hatte an ihr Ende geführt. Nach Pasadena, in ein Stadion so flach wie ein Teller. Die Anfahrt zeichnete sich dadurch aus, dass die Freeways zwischen Los Angeles und der Endspielstätte unter engstem Stoßstangen-Kontakt litten. Viele Stunden für wenige Meilen, Stoppen und Weiterschleichen auf glühendem Asphalt. Zur Arena gab es mit dem Auto kein rechtzeitiges Durchkommen mehr. Aber für ein paar Dollar immerhin eine Parkgelegenheit in einem Privatgarten. Der Rest wurde schwitzend zu Fuß erledigt, um einen lohnenswerten Marsch handelte es sich nicht.
Italiener und Brasilianer versündigten sich in einem beispiellosen Schlappgekicke am Fußballsport und lieferten mit ihrer Nullnummer über 120 Minuten hinweg das langweiligste Endspiel der WM-Geschichte. Auch das Elfmeterschießen wollte unter kalifornischer Sonne nicht richtig klappen. Das 3:2 von Carlos Dunga konterte Roberto Baggio mit einer Fahrkarte, somit musste dieses Championat in den USA wenigstens nicht ohne Weltmeister auskommen.
Ungewollt aufregender ging es manchmal abseits der Spielfelder zu. Etwa bei der gewagten Freitag- Abend-Unternehmung in Chicago, eine alte Bluesbühne anzusteuern, die nicht gerade in der besten Gegend lag. Auf einem schäbigen Hof hinter den Bahngleisen zu landen, war nicht eingeplant. Eine großklotzige Gestalt trat aus dem Dunkel in den Lichtkegel der Scheinwerfer. Der Hüne fasste sich verdächtig an den Hosengurt. »Weg, weg, weg«, brüllten die bangenden Beifahrer. Prima Idee. Guter Vorschlag. Später bediente ein Mann namens Son Seals die Gitarren, und ein Budweiser spülte die Beklemmung weg.
Zwölf Jahre ist das alles her. Unvergessen bleiben auch jene Tage, an denen das US-Fernsehen den Bildschirm spaltete. Auf der einen Hälfte rollte der Ball, auf der anderen die Highway-Jagd. Helikopter und Polizeiwagen hetzten dem Football-Star O.J. Simpson hinterher, verdächtig des Mordes an seiner Frau. Rückblickend war wohl nur der Fußball damals eher wenig abenteuerlich.

Artikel vom 20.05.2006