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Der Kaiser spielt Mauer-Bauer:
Hauptrollen für die Vorstopper

Die WM 1986 in Mexiko: Deutschland verteidigt sich bis in das Finale

Von Klaus Lükewille
Mexiko-City (WB). Franz Beckenbauer liebt den Offensiv-Fußball. Das Spiel muss immer nach vorne gehen, dorthin, wo die Tore stehen. Aber damals, 1986 bei der Weltmeisterschaft in Mexiko, wählte er die defensive Variante. Ein »Kaiser« wurde zum Mauer-Bauer.

1984, nach der total verpatzten EM in Frankreich, hatte sich Beckenbauer von der »Bild-Zeitung« auf den Posten schreiben lassen. Der WM-Kapitän von 1974, er war beim DFB wieder mit an Bord - als Teamchef. Ohne Bank-Erfahrung, ohne Lizenz, aber dafür gab es von allen Seiten Vorschuss-Lorbeeren. Wenn der Franz es nicht packt, wer dann?
Beckenbauer, eigentlich immer Optimist, zeigte sich vor dem Turnier in Mexiko als nüchterner Realist. Er kannte die Qualitäten seiner Auswahl - und die Stärken der Konkurrenz. Das Urteil: »Wir treten hier nur als Außenseiter an.« Deshalb entschied sich der Teamchef für Vorsichts-Fußball. Mit Ditmar Jakobs, Karl-Heinz Förster, Klaus Augenthaler, Hans-Peter Briegel, Matthias Herget und Norbert Eder hatte er gleich sechs Abwehrchefs und »Ausputzer« in seinem Team. Die Taktik war klar: Defensive hieß die Devise.
»Die spielerischen Möglichkeiten der Mannschaft von 1986 waren stark limitiert, da blieb mir keine andere Wahl«, blickt Beckenbauer zurück. Schon bei seinem Amtsantritt im Herbst 1984 hatte er versucht, zu hohe Erwartungen des Verbandes und der Fans zu dämpfen: »Ich kann auch keine Wunderdinge vollbringen. Da müsst ihr schon einen Zauberer aus dem Zirkus Krone holen.«
Zauberhaft kickten die Deutschen dann in Mexiko auch wirklich nicht. Der Weg durch die Vorrunde war sehr, sehr mühsam. 1:1 zum Auftakt gegen Uruguay, 2:1 gegen Schottland. Dann 0:2 gegen die Dänen, die viel dynamischer und offensiver auftraten. Allerdings: Die Deutschen kamen mit ihrem »Mauer-Ball« immer weiter, die Dänen mussten schon nach dem Achtelfinale (1:5 gegen Spanien) die Koffer packen.
In dieser Runde sorgte Lothar Matthäus mit einem späten Tor gegen Marokko für den Sieg. Es knackte und knirschte aber weiter gewaltig im deutschen Spiel. Es knallte auch hinter den Quartier-Kulissen. Ersatztorwart Uli Stein gefiel die Reserve-Rolle überhaupt nicht. Er hatte Beckenbauer als »Suppenkasper« verspottet - und durfte zur »Belohnung« sofort den Abflug Richtung Heimat machen.
Später bekannte der Teamchef: »Stein und Schumacher hatten damals ein Leistungsniveau. Ich habe den Toni in den Kasten gestellt, das war eine Bauch-Entscheidung.« Fußball mit Gefühl, das beherrschte Beckenbauer ja schon als Spieler, jetzt hatte der Trainer die richtige Wahl getroffen: Denn Schumacher wurde in den nächsten beiden Partien zum wichtigen Rückhalt.
Im Viertelfinale, beim 4:1-Elfmeter-Krimi gegen Gastgeber Mexiko, fischte er gleich zwei Strafstöße. Die Deutschen unter den letzten vier Mannschaften, wie 1982 in Spanien. Und es sollte erneut zum Duell gegen die Franzosen kommen. Kapitän Michel Platini und Kollegen hatten sich viel vorgenommen: »Das ist unsere Chance: Wir wollen und werden uns für die unglückliche Niederlage von Sevilla revanchieren.«
Non, Monsieurs. Denn der Abwehrwall hielt - und dahinter stand der überragende Schumacher. Frankreich stürmte, Deutschland konterte. Karl-Heinz Rummenigge und Rudi Völler sorgten für den 2:0-Erfolg.
Das war das Finale! Unglaublich. »Ich hätte nie gedacht, dass wir so weit kommen würden«, staunt Schumacher noch heute. Der Schlussmann, vorher oft der Retter, er patzte dann ausgerechnet bei seiner ersten Endspiel-Aktion gegen Argentinien. Flanke verpasst, Kopfball José Brown - und es hieß 1:0. Als Jorge Valdano nach dem Wechsel das 2:0 besorgte, schien alles gelaufen. Aber deutsche Fußballer geben nicht auf, niemals. 2:1 Rummenigge. 2:2 Völler. Da wollten sie zu früh und zu schnell alles - und rannten dann in den entscheidenden Konter, den Jorge Burruchaga setzte.
Die deutsche Mauer stürzte ein. Zum ersten Mal zu viel riskiert, schon war es passiert. Kritische Töne gab es aber nicht. Beckenbauer stellte fest: »Ich schätze diesen zweiten Platz höher ein als unseren Titel von 1974.«
Und auch vom Kanzler kamen lobende Worte. Helmut Kohl, damals Augenzeuge, er drückte die Spieler und den Teamchef an seine breite Brust und lobte alle: »Männer, ihr habt den deutschen Fußball würdig vertreten.« Hier sprach der Abwehr-Experte. Kohl war schließlich früher Mittelläufer bei Südwest Ludwigshafen.

Artikel vom 06.05.2006