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Die Geschichte Westfalens zerfällt

Säure zerstört neun von zehn Akten - Land stellt eine Million Euro bereit

Von Dietmar Kemper
Bad Oeynhausen (WB). In Westfalen-Lippe zerbröseln ausgerechnet die Akten jüngeren Datums. »90 Prozent sind säuregeschädigt«, sagte gestern der Leiter des Westfälischen Archivamtes in Münster, Norbert Reimann.

Es bestehe die Gefahr, »dass die Geschichte der letzten 200 Jahre zu Staub zerfällt«, beklagte der Experte. Das Land Nordrhein-Westfalen hat zum ersten Mal ein Sonderprogramm zur Entsäuerung aufgelegt. Es läuft im Sommer an und sieht zu Beginn eine Million Euro für Rettungsmaßnahmen vor. Reimann sprach vom »ersten wichtigen Schritt« gegen den unaufhaltsamen Papierzerfall. Die Bewahrung der Akten für die Nachwelt wird nach seinen Angaben Kosten im »zweistelligen Millionenbereich« verursachen und 15 bis 20 Jahre dauern.
»Wir stellen im gesamten Archivgut fest, dass das Papier immer brüchiger wird«, erklärte der Leiter des Westfälischen Archivamtes. Beim Umblättern würden vermehrt Stücke herausbrechen. Das Problem betrifft alle seit 1850 angefallenen Akten, denn von der Jahrhundertmitte an wurde säurehaltiges Papier maschinell hergestellt. Die Chemikalie zersetzt auf Dauer das Papier, lässt es brüchig und unleserlich werden. Besonders kritisch ist der Zustand der Akten aus den ersten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Damals war die Papierqualität extrem schlecht; geschrieben wurde auf gleichermaßen holzschliff- wie säurehaltiger Unterlage.
»Wir versuchen schon seit längerem, die Politik für die Gefahren zu sensibilisieren«, sagte Reimann. Wenn ein Baudenkmal zerfalle, sehe das jeder, bei Akten verlaufe der Verfallsprozess eher unscheinbar. Die 300 Staats-, Kommunal-, Kirchen- und Privatarchive in Westfalen-Lippe verwalten 200 Kilometer Akten. 80 Prozent davon stammen aus der Zeit nach 1850, unterliegen also fortschreitender Zerstörung durch Säure.
Trotzdem sind bislang nur zehn Prozent des Bestandes auf Mikro-Film dauerhaft gesichert. Die Verfilmung gilt nach traditionellem Verständnis von Archivarbeit nur als Notlösung. Archive hätten die Aufgabe, die Zeugnisse der Vergangenheit »als Kulturgut im Original aufzubewahren«, betonte Reimann. Heute und morgen versammeln sich 200 Archivare in Bad Oeynhausen. Das Sonderprogramm der Landesregierung zur Entsäuerung ist ein Thema des Westfälischen Archivtages.
Informiert wird über technische Verfahren, die die Säure im Papier neutralisieren. »Dabei wird eine so genannte alkalische Reserve eingebracht, die in den Archivalien wie ein Puffer gegen die Säure wirkt und den Zerfall aufhält«, erklärte Norbert Reimann. Somit soll Chemie die älteren Schäden durch Chemie reparieren.

Artikel vom 14.03.2006