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Karl Dietrich Bracher

»Demokratie bedeutet Selbstbeschränkung, Ideologie Selbstüberhöhung.«

LeitartikelZum Tode eines Diktators

Aufklärung gegen Mythen


Von Jürgen Liminski
»Hütet euch vor den Verzweifelten«, soll Bismarck in der Balkan-Konferenz 1878 ausgerufen haben. Seine Warnung war berechtigt, nirgendwo sonst verschmolzen Opfermythos, Heldenepos und Nationalismus so zu einem Gemisch aus Blut und Boden wie auf dem Balkan. Die Region war jahrhundertelang ein Pulverfass, und auch nach mehreren Kriegen glimmt die Lunte immer noch.
Der Mythos von der serbischen Märtyrernation, von den verkannten Rettern Europas, die den Kontinent auf dem Amselfeld vor den Türken gerettet haben und die immer ungerecht behandelt wurden, dieser Mythos wird jetzt erst recht wieder aufleben, da die Umstände des Todes von Milosevic sich im Nebel von Gerüchten und medizinischen Spekulationen verlieren. Auch weil eine Woche zuvor ein anderer Serbenkrieger, der Kriegsfreund Milosovics aus der Krajina, Milan Babic, ebenfalls in Den Haag tot in seiner Zelle gefunden wurde.
Das ist das schreckliche Erbe des Kriegsverbrechers Slobodan Milosevic. Über seinen Tod hinaus schürt er jetzt den Nationalismus in Serbien. Denn wenn er nicht in Belgrad begraben wird, sondern in Moskau, werden seine Anhänger und die großserbischen National-Radikalen, die aus den jüngsten Umfragen mit 37 Prozent als populärste Partei hervorgingen, auf die Straße gehen. Wird er in Belgrad begraben, werden sie vermutlich in noch größeren Massen seinem Sarg folgen.
Das aber kann dann zum Begräbnis für die Europa-Hoffnungen der serbischen Regierung werden. Ein nationalistisches Serbien, das lebende Kriegsverbrecher nicht ausliefert und tote betrauert, passt schlecht in die Harmoniegemeinschaft von Brüssel.
Für die Europäer und auch die Amerikaner ergibt sich ein Dilemma. Üben sie weiter Druck auf die jetzige serbische Regierung aus, stärken sie die Nationalisten. Lassen sie nach und nehmen auch ohne Auslieferung von Mladic und Karadzcic Gespräche über eine Annäherung an die EU auf, dann werden sie sich selbst untreu, und die radikalen Nationalisten in Serbien fühlen sich bestätigt.
Wahrscheinlich wird man einfach abwarten. Aber auch das ist keine Lösung: Denn die Attraktion Europas lässt nach, die Zeit arbeitet für die Nationalisten.
In dieser Situation versucht die serbische Regierung über eine aktivere Informationspolitik den Märtyrer-Glanz des Slobodan Milosovic zu trüben. Er komme aus einer Familie mit vielen Selbstmördern, sein Vater und seine Mutter begingen Selbstmord, ebenso manche Verwandte, und Milosovics Verfolgungsangst vor gedungenen Mördern, die ihn vergiften wollten, war schon zu seinen Lebzeiten als Herrscher in Belgrad Anlass zu manchen Scherzen, nicht nur bei der unterdrückten Opposition.
Aufklärung und Transparenz sind die beste Medizin gegen Opfermythen und Märtyrersyndrome. Sie vermeiden die Verzweiflung und die Selbstüberschätzung, die bei Ideologen eng beieinander liegen.

Artikel vom 14.03.2006