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»Bestrafung wäre ein
wenig  Genugtuung«

Opfer beklagen, dass Milosevic dem Urteil entging

Den Haag (Reuters). Nach dem überraschenden Tod des mutmaßlichen Kriegsverbrechers Slobodan Milosevic hat das UN-Tribunal in Den Haag eine Obduktion der Leiche eingeleitet. Chefanklägerin Carla del Ponte schloss einen Selbstmord des ehemaligen jugoslawischen Machthabers nicht aus.
Seine Anhänger in Serbien lasteten den Tod dagegen dem internationalen Gericht an. Die Opfer der von Milosevic gesteuerten Kriege reagierten mit bitterer Enttäuschung darauf, dass der »Schlächter vom Balkan« ohne eine gerechte Strafe davongekommen sei.
Wie andere europäische Regierungsvertreter rief Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier dazu auf, den Tod des serbischen Nationalisten zum Anlass für verstärkte Bemühungen zu nehmen, »für Frieden und Stabilität auf dem Balkan zu sorgen«.
Milosevic wurde am Samstagmorgen tot in seiner Zelle im Gefängnistrakt des Gerichts im niederländischen Scheveningen gefunden. Die wachhabenden Beamten sind angehalten, die Zellen der dort auf eine Verurteilung wartenden mutmaßlichen Kriegsverbrecher der Balkan-Kriege halbstündlich zu kontrollieren. Es war unklar, wann Milosevic zuletzt lebend angetroffen worden war. Erste Untersuchungen gaben dem UN-Tribunal zufolge keinen sicheren Aufschluss darüber, was den Tod des 64-Jährigen ausgelöst hat. Es war noch nicht einmal eine Woche her, dass sich in dem Gefängnis ein anderer Serbe das Leben genommen hatte.
Ein serbischer Regierungsvertreter und serbische Gerichtsmediziner wurden zu der Obduktion der Leiche herbeigezogen. Offen blieb auch, wann und wo Milosevic begraben wird. Dies sei eine Entscheidung, über die die Familie des Toten informieren müsse, erklärte ein Sprecher des Tribunals.
Milosevic litt seit langem an Herz- und Kreislaufproblemen und hatte erst kürzlich beantragt, sich für eine medizinische Behandlung nach Moskau begeben zu dürfen. Das Tribunal lehnte dies offenbar aus der Sorge heraus ab, der Angeklagte könnte Mittel und Wege finden, nicht nach Den Haag zurückzukehren.
Mit dem Tod Milosevics findet eines der wichtigsten Kriegsverbrecherverfahren Europas seit den Nürnberger Prozessen ein abruptes Ende. Das UN-Gericht war noch Monate von einem Urteil entfernt, obwohl der Prozess bereits in sein fünftes Jahre ging. Milosevic war in 66 Punkten wegen Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Er hat Anfang der neunziger Jahre mit Gewalt eine Aufspaltung Jugoslawiens zu verhindern und ein Groß-Serbien zu bilden versucht. Serbische Truppen gingen in den Teilrepubliken Bosnien und Kroatien sowie in der südserbischen Provinz Kosovo systematisch gegen die Minderheiten des Vielvölkerstaats vor.
Fast 300 000 Menschen starben, zweieinhalb Millionen wurden vertrieben. 1999 griff schließlich die NATO mit Luftangriffen ein, um die Gräueltaten zu beenden.
UN-Chefanklägerin Carla del Ponte äußerte ihr tiefes Bedauern darüber, dass der Tod des Anklagten nun seinen Opfern die Gerechtigkeit verwehre, die sie verdient hätten. Umso dringender sei es nun, die anderen mutmaßlichen serbischen Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen.
Die EU hat gerade erst ihren Druck auf Serbien erhöht, mehr zur Auslieferung von Ratko Mladic und Radovan Karadzic beizutragen, denen das Massaker von Srebrenica und die jahrelange Belagerung von Sarajevo zur Last gelegt werden. Zugleich wehrte sie sich gegen Vorwürfe, die Anklage sei mit schuld an der Länge des Verfahrens. In dem Prozess sei es nicht nur um eine Verurteilung gegangen, sondern »um Wahrheit und Fakten«. »Es ist besonders für die Opfer wichtig, dass sie umfassend erfahren, was geschehen ist.«
Für Kroatien drückte Präsident Stjepan Mesic, für die bosnischen Moslems deren Anführer Sulejman Tihic tiefe Enttäuschung aus. Besonders Bosnien kämpft bis heute mit den Folgen des Krieges.
Eine Bestrafung »wäre ein wenig Genugtuung in einem Meer der Pein« gewesen, sagte der Kosovo-Albaner Kasim Cerkezi, der in einer serbischen Offensive vor sieben Jahren sechs Angehörige verloren hat, darunter einen Sohn und einen Bruder.
In Serbien blieb es auch gestern ruhig. Milosevics Anhänger, die sich auf 30 Prozent der Wähler stützen können, beschworen zwar die vorhandenen Ressentiments gegen den Westen und dessen angeblich feindliche Absichten gegenüber allen Serben. Viele Menschen gedachten jedoch lieber dem Tod von Zoran Djindjic, der zu den Anführern der demokratischen Bewegung gehörte, die Milosevic 2000 gestürzt hat. Am Sonntag jährte sich zum dritten Mal der Tag, an dem Djindjic von Radikalen erschossen worden ist.

Artikel vom 13.03.2006