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Luftaufnahme vom Gelände am Schilsker Viadukt, die Martin Brückner von der Luftbilddatenbank Würzburg bekam. Auf den von der Hauptstrecke abzweigenden bogenförmigen Gleisen verkehrte sofort nach der Zerstörung des Viadukts die sogenannte »Gummi-Bahn«.

»Erinnerung an die Bomben war wieder da«

Luftwaffenhelfer Brückner saß auf dem HdT

Von Matthias Meyer zur Heyde und Hans-Werner Büscher (Repros)
Bielefeld (WB). Als unlängst der Zweiteiler »Dresden« im Fernsehen lief, war die Erinnerung an die Bomben sofort wieder da. Kein Wunder: Der damalige Luftwaffenhelfer Martin Brückner saß ja auch auf dem Dach des Hauses der Technik und später am Schildescher Viadukt wie auf dem Präsentierteller.

Heute ist Martin Brückner 79 Jahre alt, »aber dieses demoralisierende Pfeifen habe ich immer noch im Ohr«, sagt der einstige Ratsgymnasiast, der am 15. Februar 1943, 9.00 Uhr, antrat, um seinen Beitrag zur Verteidigung des Reiches zu leisten. Mutter Annemarie, eine geborene Oetker, war nicht begeistert und Vater Konstantin, »ein pflichtbewusster Preuße« (Brückner), machte keinerlei Anstalten, den Gestellungsbefehl für den Sohn mit Untauglichkeitsbescheinigungen oder Ähnlichem zu unterlaufen.
»Ich habe gehört, dass viele meiner Altersgenossen den Krieg als Abenteuer verstanden, aber ich selbst bin nur aus Pflichtgefühl hingegangen«, erinnert sich Brückner. Dass er bei den ersten Luftangriffen Angst verspürte, verhehlt er nicht, »aber hinterher hatte man sich daran gewöhnt.« Allerdings gehen ihm die Bilder nicht aus dem Kopf, die er 1943 von einem abgeschossenen Stirling-Bomber machte: »Das Flugzeug war in der Patthorst runtergekommen, einer Idylle zwischen Steinhagen und Brockhagen - überall lagen Leichenteile.«
Dieses grausame Erlebnis datiert bereits aus Brückners Zeit an einem 10,5-Zentimeter-Geschütz in einer Viererbatterie am Viadukt. Zunächst jedoch saß der Schüler an einer Zwei-Zentimeter-Flak, die man auf dem Dach des HdT gegen Tiefflieger installiert hatte. »Das waren übrigens Oerlikon-Kanonen aus der neutralen Schweiz, die dann bei Dürkopp montiert wurden.«
Auch für den Fernsprechdienst war der Gymnasiast zuständig, der sich noch mit leichtem Schaudern daran erinnert, wie er die Leitungen in schwindelnder Höhe verlegte. Die jungen Flakhelfer, geführt von Wehrmachtsoldaten, waren im Obergeschoss des HdT kaserniert, wo gelegentlich auch Schulunterricht stattfand, »der aber nicht der Rede wert war.«
Das zarte Pflänzchen »Menschlichkeit« blühte dort auch in harter Zeit: »Meine Mutter hatte im HdT einen Kochkurs besucht und riet mir, mich mal bei der Leiterin der städtischen Lehrküche, bei Fräulein Weiß, zu melden. Das tat ich, und so kam ich abends gelegentlich in den Genuss von ein bisschen Pudding, der vom Tage übriggeblieben war.«
Allerdings legt Martin Brückner Wert auf die Feststellung, dass er während des Krieges auch sonst genug zu essen bekam: »Was Hunger ist, lernte ich erst auf den Rheinwiesen bei Sinzig kennen.«
Und noch eine hübsche Episode kann er fotografisch belegen: den Besuch der Ballett-Tänzerinnen des Theaters - Truppenbetreuung mit dem »Holzschuhtanz« aus »Zar und Zimmermann«. Die schönen Künstlerinnen machten die Halbwüchsigen in Uniform ganz verlegen. »Übrigens war ich schon als 14-Jähriger mit der Bühne in Kontakt gekommen: als Statist, als Diener des Prinzen Orlofsky in der ÝFledermausÜ.«
Ein paar Monate nach der Einberufung wurde Richtschütze Brückner an den Viadukt versetzt. Von dem Gelände besitzt er mittlerweile Luftaufnahmen aus dem Jahr 1945: Die Landschaft ist von Bombenkratern übersät. »So geht's im Krieg: Ich oder du! Die Engländer, die wir abgeschossen hatten, taten mir zwar leid, aber genauso leicht hätte es auch uns erwischen können . . .«
Martin Brückners weiterer Lebensweg führte über den Reichsarbeitsdienst in Stukenbrock zur Wehrmacht, genauer: zur Luftnachrichtentruppe. Er tat Dienst auf dem berühmten Annaberg in Oberschlesien, entkam der Roten Armee mit knapper Not über die zugefrorene Oder und fiel den US-Truppen in die Hände: »Come on, boys, for you the war is over, meinte der Offizier, der noch wissen wollte: How far is it to Berlin?« Bekanntlich aber war es egal, wie weit es die GIs noch bis zum Führerbunker hatten - ihre sowjetischen Waffenbrüder kamen zuerst an.
Ein jüdischer Verhörspezialist behauptete, der zwei Meter große Gefangene müsse in der Waffen-SS gedient haben. »Eine lebensgefährliche Situation«, erinnert sich Brückner. Er umschiffte auch diese Klippe, entrann der Hölle auf den Rheinwiesen und wurde Ende 1945 zur Landarbeit nach Bielefeld entlassen. »Auf dem Hof von Theodor Meyer zu Rahden habe ich die Landwirtschaft von der Pike auf gelernt und studierte dann in Bonn.«
Es folgte ein Praxisjahr in den USA - übrigens auf Vermittlung eines jüdischen Schulfreundes des Vaters: Otto E. Siegel bürgte für den jungen Deutschen. Und weil ein Bauer auch ein guter Kaufmann sein muss, machte Martin Brückner ein Volontariat bei der Lampe-Bank - was ihm so gut gefiel, dass er letztlich Bankangestellter wurde.
Mit den dunklen Zeiten geht der zweifache Vater und fünffache Großvater recht unbefangen um; sich wegen der NS-Verbrechen Asche aufs Haupt zu streuen, ist Martin Brückners Sache nicht. Aber die Grausamkeiten des Krieges, das Inferno von Dresden wie die Toten in der Patthorst, beunruhigen noch den Veteranen: »Als der Fernsehschirm in Flammen stand und die Sirenen heulten, waren die alten Bilder wieder da.«

Artikel vom 18.03.2006