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Vom Helden zum
»Torwart-Trottel«

Wiese kann den Fehler nicht fassen

Turin (dpa). Nach dem teuersten Fehler der Vereinsgeschichte liefen die Tränen. Blankes Entsetzen breitete sich bei den Bremer Feldspielern aus, nachdem Torwart Tim Wiese bei einer unnötigen Rolle den schon sicher gefangenen Ball verloren und mit dieser Einlage die Fußball-Sensation bei Juventus Turin verhindert hatte.

Und der bis dahin prächtig parierende Keeper, der innerhalb einer Sekunde vom Helden zum Torwart-Trottel wurde, schlug fassungslos die Hände über dem Kopf zusammen und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
Werders Ausscheiden im Champions-League-Achtelfinale durch das 1:2 bei Juventus Turin dürfte den 24-Jährigen lange verfolgen. Wahrscheinlich wird er sich in mancher schlaflosen Nacht noch einmal vorstellen, wie ihm der Ball zwei Minuten vor dem Ende der Partie aus den Armen kullert, wie Juves Abwehrchef Fabio Cannavaro »Puma, Puma« schreit, wie der schon zurücklaufende Emerson sich daraufhin umdreht, weil er seinen Spitznamen hört, und wie der Brasilianer an den verdutzten Bremern vorbei das 2:1 erzielt. An das Geschehen davor, an die Führung durch Johan Micoud (13.) und an den Ausgleich von David Trezeguet (65.), wird er sich hingegen kaum mehr erinnern.
Wiese konnte den Patzer später ebenso wenig fassen wie zuvor den Ball: »Ich wollte im Boden versinken. Das ist Wahnsinn. Dass man so ein Riesenspiel noch kaputtmachen kann. Das war eine ganz dumme Aktion.« Dass die Millionen-Rolle eine reine Aktion für die Galerie war, mochte er nicht bestätigen. »Ich wollte ein bisschen Zeit schinden«, lautete die Begründung des Keepers. Und auch Trainer Thomas Schaaf sagte: »Tim wollte in der Szene vor dem Gegentor keine Show-Einlage bieten, sondern der Mannschaft auch ein paar Sekunden Verschnaufpause geben.« Mit versteinerter Miene meinte Schaaf: »Das ist für ihn bitter, aber das ist auch für uns bitter.«
Fast alle Spieler versuchten den unglücklichsten Menschen dieser Turiner Nacht zu trösten. Vorwürfe gab es nicht. »Das ist sein Stil, der macht ihn auch stark«, sagte Frank Baumann über den Tormann mit dem Hang zum Spektakulären. Der Kapitän fügte an: »Ich denke nicht, dass er sich da umstellen muss.« Genau an diesem Punkt aber gingen die Meinungen auseinander. »Daraus muss er lernen«, forderte Manager Klaus Allofs, während Schaaf sagte: »Das klärt die Mannschaft intern.«
Dennoch nahm Allofs den Tormann in Schutz. Er verwies auf die beeindruckende Leistung in den 87 Minuten davor und auf die fehlende Spielpraxis des nach zwei Kreuzbandrissen lange verletzten Keepers, der erst vor dreieinhalb Monaten sein erstes Pflichtspiel nach mehr als einem Jahr Pause gemacht hatte. »Er hat vorher eine Weltklasse-Spiel gemacht«, sagte der Manager. »Dass er dann so einen Fehler macht, den man sich nicht erklären kann, das ist umso tragischer.«
Trotzdem haben die Bremer durch die beiden starken Auftritte gegen den italienischen Rekordmeister die Schlappen gegen Olympique Lyon in der vergangenen Champions-League-Saison vergessen lassen. Sie haben an Ansehen gewonnen und an Erfahrung. Aber sie haben durch Wieses Aussetzer auch weitere Einnahmen durch die Teilnahme am Viertelfinale verspielt. »Die drei Millionen sind mir ziemlich egal«, sagte Allofs. »Das Schlimme ist nur, dass man auf so ungerechte Art und Weise hier rausfliegt. Wir hatten Juve am Rande des Ausscheidens.«

Artikel vom 09.03.2006