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Je mehr Arbeitslose,
desto kleiner die Scham

Podiumsgespräch zu »Café Umberto«


Bielefeld (WB/mzh). »Viele Leute könnten Verantwortung übernehmen, aber sie bleiben untätig«, sagt Moritz Rinke. Die Titelfigur seines Theaterstückes dagegen verdiene zwar Geld mit dem Getränkeverkauf an Arbeitslose, investiere aber in eine - hoffentlich - bessere Zukunft: Beim regen Meinungsaustausch des »Podiumsgesprächs« nach der Aufführung von »Café Umberto« stand der Berliner Autor den Theaterbesuchern im TAM Rede und Antwort.
Rinke, dessen humorvolles Stück über ein bitterernstes Thema beim Publikum bestens ankommt, sparte nicht mit Kritik an der hohen Politik. Die Fixierung der Gesellschaft auf Erwerbsarbeit als Maßstab von Wert und Unwert des Menschen müsse einem ganz neuen, visionären Konzept Platz machen, doch die Politik rede am Thema vorbei. »Und wir alle haben diese Weltsicht verinnerlicht: Urlaub können wir nur genießen, wenn er von Arbeit umstellt ist - Zeit zu haben, die nicht Urlaub ist, erscheint uns als das Grauen schlechthin.«
»Mein Stück handelt von Angehörigen der Mittelschicht, die jetzt ebenfalls mit der vernichtenden Erfahrung, arbeitslos zu sein, konfrontiert werden«, sagte Rinke, der in »Café Umberto« bewusst keine alkoholabhängigen Proleten vorstellen wollte. »Aber saufen oder sich vor den Zug werfen, wie es in meinem Stück geschieht, ist letztlich dasselbe.«
Trotz der Misere gebe es Hoffnung, doch dazu bedürfe es kreativer Anstrengungen, meinte der Schriftsteller, der es begrüßte, dass Bielefelds Intendant Michael Heicks in seiner Inszenierung Verzweiflung - und Widerstand - mit einem Augenzwinkern spielen lasse. Mit der Kritik, »sein« Schlussbild sei ein Happy-end und daher etwas kitschig, konnte Heicks gut leben: »Ich wollte alle Figuren, auch die gescheiterten, bis zum Ende auf der Bühne haben, um sie dort beobachten zu können.«
Arbeiter als Aktionäre, Investitionen als Jobvernichter: »Mein Thema ist die Erosion einer nicht mehr modernen Gesellschaft«, erklärte Rinke. »Ich frage: Wie wollen wir in Zukunft leben? Ich vermute: Je größer die Arbeitslosigkeit wird, desto mehr schwindet die Scham, erwerbslos zu leben.«

Artikel vom 08.03.2006