18.03.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Wissenschaftler: Denken und Entscheiden ist durch neuronale Prozesse festgelegt

Was wäre eigentlich, wenn die Hirnforscher recht hätten?
Von Hans Thomas


Die Neurobiologie hat in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht, besonders dank bildgebender Verfahren (»Hirn-Scan«). Hirnforscher, die sich dabei einen Namen gemacht haben wie Wolf Singer, Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt, und Gerhard Roth, Direktor am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen, sind mit der »Erkenntnis« in die Öffentlichkeit gegangen, all unser Denken, psychisches Erleben und Entscheiden sei durch neuronale Prozesse festgelegt, also zwangsläufige Folge unserer biologisch vorgegebenen Hirnaktivität. Geist und Bewusstsein hätten sich »in der Evolution der Nervensysteme allmählich herausgebildet.« Dass wir Menschen einen freien Willen haben, sei eine Illusion. Hinter meiner Überzeugung, dass ich mich zu einer Handlung frei entschieden habe, verberge sich in Wirklichkeit eine nachträgliche Identifizierung damit und ein Begründungsbedarf.

Dem zufolge konnte mein bisheriges Handeln und Verhalten gar nicht anders ausfallen als geschehen. Ich habe keinen Einfluss darauf, was ich denke, fühle, wünsche, wie ich mich entscheide. Mit anderen Worten: Es ist mir nicht zuzurechnen. Ich bin im wörtlichen Sinne »unzurechnungsfähig«. Das steht im Widerspruch zu meinen alltäglichsten Erfahrungen. Diese haben mich dann angeblich getäuscht. Geben die neurowissenschaftlichen »Erkenntnisse« genügend her, um meine alltäglichste Erfahrung zu bestreiten? Und eine ganze Reihe fundamentaler Selbstverständlichkeiten menschlicher Kultur gleich mit?

Hätten die Hirnforscher recht, wäre völlig unklar, was noch mit dem Wort Verantwortung gemeint sein soll. Das ganze System der Justiz müsste neu gedacht werden. Strafe müsste abgeschafft oder völlig neu begründet werden. Es hätte auch keinen Sinn, jemanden zu loben. Wofür? Für etwas, das er gar nicht verhindern konnte? Der Nobelpreis erübrigte sich. Erfindungen wären allenfalls Produkte ungewohnter, zufälliger Verschaltungen von Nervenzellen. Überhaupt Kreativität: Wohl alles so genannte »Emergenzen«. Von Emergenz sprechen Evolutionsbiologen, wenn auf einer bestimmten Stufe von Komplexität der Materie etwas Neues erscheint, was man nicht erwarten konnte noch erklären kann, etwa Leben oder Intelligenz.

Niemand wird behaupten, dass unsere Freiheit unbegrenzt wäre.
Niemand wird behaupten, dass unsere Freiheit unbegrenzt wäre. Das verhindert unser Leib mit seinen Begrenzungen. Und dass bei unserem Denken, Fühlen, Wünschen, Planen, Entscheiden unser Gehirn eine Rolle spielt, wird niemand bestreiten. Die Frage ist aber: Welche Rolle?

Aufs Ganze gesehen, wird es niemanden überraschen, wenn uns jemand sagt, dass bei Dingen, die wir erleben, Sinnesreize unser Gehirn in bestimmte Zustände versetzen, die wir nicht oder so gut wie nicht beeinflussen können. Solche Erlebnisse mögen Gefühle wecken, Stimmungen auslösen, die wir nicht oder kaum steuern können. Auch diese Gefühle und Stimmungen mögen durch bestimmte Hirnzustände bedingt, sogar verursacht sein, sind jedenfalls mit solchen verbunden. Selbstverständlich haben solche Stimmungen oder Gefühle Auswirkungen auf unser Handeln. Sie können mich zum Schweigen bringen oder auch zum Singen. Dabei dürfte meine Hirnaktivität gut messbar sein. Ist dabei aber auch messbar, wie Friedrich Wilhelm Graf fragt, ob ich ein Loblied auf Gott, die Internationale oder sonst ein Protestlied schmettere? Eigentlich hatte ich gestern vor, die Freunde zum gutbürgerlichen Lokal an der Ecke einzuladen. Aber dann ging ich, ohne sie zu fragen, mit ihnen zum Italiener zwei Straßen weiter. War dieser Programmwechsel nun eine freie Wahl von mir - sei es aus bloßer Laune oder aufgrund bewusster Gründe oder war es eine zwingende Äußerung biologischer Aktivität meiner Hirnzellen?

Es mag unbewußte Veranlassungen, sogar Ursachen geben, die von Reaktionsmustern meiner Hirnaktivität abhängen. Aber alles nur Nervenfunktion? Es geht ja um das behauptete »Nur«.
Soviel ist inzwischen gesichertes Wissen der Neurobiologie: Das Gehirn ist ein lebenslang formbares, »plastisches« Organ. Heißt das, dass Lernen, Erinnerungen, Gewöhnungen, eingeübte Wertungen die Hirnstruktur und -funktion verändern, formen oder prägen? Das sind immerhin nicht materielle Einflüsse. Dann müsste erstmal das erklärt werden.

Vermutlich hat dann die Erziehung in meinem Hirn Bereitschaftszustände geformt, bestimmte Dinge zu tun, etwa Unbekannte freundlich zu grüßen, und Bremsen programmiert, bestimmte Dinge nicht zu tun, etwa unbeherrscht zu fluchen. Womöglich hat das Gedächtnis in meine Hirnstruktur dann auch eine mir nicht bewusste Sympathie für den Italiener geprägt. In dem Sinne etwa: Zunächst herrschte zwischen den Hirnzuständen »Präferenz gutbürgerliche Küche« und »Präferenz Italiener« mehr oder minder Gleichgewicht. Beim Losmarschieren hat sich dann ein Zusatzreiz »Italiener« eingestellt. Mag sein. Ich mag übrigens Schnitzel ebenso wie frischen Fisch vom Grill. Noch nie hat mich ein neuronales Gleichgewicht zwischen beiden vom Essen abgehalten. Herr der Lage blieb ich.

Dass sich Bewusstes und Unbewusstes mischen, entspricht der Erfahrung. Es bleiben aber die Fälle, bei denen ich mir meiner Freiheit sicher bin: Ich habe Medizin studiert. Ich kannte den Arztberuf nicht, mein Vater riet zu Ingenieur (wozu er mich für besonders begabt hielt) und auch sonst sprach noch manches gegen Medizin. Die Wahl habe ich überlegt, frei und allein entschieden. Später habe ich durchaus interessante und wirtschaftlich vorteilhafte Angebote abgelehnt. Grund: Ich sah auf die Dauer dabei ein Risiko, »mich zu verkaufen«.

Unser Hirn mit seinen hundert Milliarden ausgedehnter und vernetzter Nervenzellen, die pausenlos untereinander Signale austauschen, ist ein kompliziertes Organ. Gewiss, es lassen sich Hirnareale abgrenzen, deren (meßbare) elektrische Aktivität zunehmend auch psychischen und Bewußtseins-Funktionen zugeordnet werden können. Aber es handelt sich um eher grobe Abgrenzungen und Messungen. Und diese geben keinerlei Antwort auf die Frage, ob die gemessenen Aktivitäten die psychischen und Bewusstseins-Phänomene verursachen oder nur Hand in Hand mit ihnen gehen.

Die Hirnforscher messen Hirnpotentiale, bevor der Proband sich anschickt, die Hand zu heben, und interpretieren diese Aktivität als den Entschluss, dessen sich der Proband erst im nachinein bewusst wird. Sie dürften also den alten (dualistischen) Vergleich bestreiten, wir benutzten unser Gehirn wie der Pianist sein Klavier. Sie mögen recht haben. Aber die Kritik bleibt - wie der Vergleich selbst - nur vordergründig. Gäbe das Klavier die Mozartsonate her, ehe der Pianist die Tasten drückt, wäre der Künstler tatsächlich überflüssig. Hintergründig bleibt entscheidend, dass der Künstler die Sonate beherrscht, bevor er die Tasten drückt.

Artikel vom 18.03.2006