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Kulturkritik steht auf dem Spiel


Von Michael Heicks,
Intendant Theater Bielefeld
Das Verhältnis von Theater und Presse ist ein Besonderes.
Regisseur, Dramaturg, Schauspieler, Musiker oder Tänzer beschäftigen sich in einem wochenlangen Probenprozess mit sich und ihrer Arbeit, mit dem, was der Zuschauer, also auch die Presse, bei der Premiere sieht und hört.
Eine an sich schon seltsame Konstellation: Von der Probebühne im Kreise der Kollegen auf die große, hell erleuchtete Bühne in die Öffentlichkeit. Zu dieser Öffentlichkeit gehören im besten Sinne der Presse- und Meinungsfreiheit die Journalisten.
Sie sind Teil dieser Öffentlichkeit und damit Teil des Publikums. Der Kritiker fasst seine flüchtigen Eindrücke, oftmals in Windeseile, in Worte, damit sie dem Leser druckfrisch am Tag nach der Premiere zukommen. Eine wochenlange Auseinandersetzung mit Stück, Rolle oder Partie steht damit der einmaligen Wahrnehmung eines einzigen Abends gegenüber.
Natürlich sind alle an der Vorstellung Beteiligten, insbesondere die leiblich anwesenden Darsteller, hier besonders sensibel. Ihre Arbeit, ihre Emotionen, »stehen auf dem Spiel«. Eine schlechte Kritik kann die Künstler in ihrer Seele treffen. Viele lesen daher keine Kritiken. Andere wiederum sammeln sie akribisch. Eine schlechte Kritik schmerzt. Dennoch ist sie, nein: muss sie selbstverständlich, erlaubt sein. Eben weil sie Teil der Öffentlichkeit ist, ohne die das Theater nicht existieren würde.
Dass 60-jährige Jubiläum vom WESTFALEN-BLATT ist daher ein wunderbares Zeichen für das erfolgreiche Bestehen öffentlicher Stellungnahme. Erst kürzlich haben ich und mein Theater deutlich gemacht, für wie unerlässlich wir dieses Recht auf öffentliche und im besten Sinne kritische Meinungsäußerung halten: Dem Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier, der während einer Aufführung in Frankfurt von dem Schauspieler Thomas Lawinky verbal und körperlich angegriffen wurde, haben wir ganz bewusst öffentlich Asyl am Theater Bielefeld angeboten. In Frankfurt ist eine Grenze überschritten worden, »eine Grenze in der Verabredung über das Funktionieren von Theater«, wie wir es in unserem Aufruf formulierten. Die Öffentlichkeit ist Teil des Spiels, im wirklichen und im übertragenden Sinne, und ein Spiel hat Regeln, die nicht verletzt werden dürfen.
Allerdings möchte ich dies mit einer Einschränkung belegen und damit gleichzeitig ein mir wichtiges Anliegen formulieren: Auch eine schlechte Kritik sollte eine fundierte Kritik sein. Jede Kritik muss sich ihrerseits Kritik gefallen lassen, wenn sie oberflächlich kritisiert, wenn wichtiges Hintergrundwissen fehlt: Dies beginnt mit der korrekten Recherche und Ortographie von Künstlernamen - kurzum: mit der richtigen Wiedergabe von Fakten, und endet mit einem fundierten Urteilsvermögen über die jeweilige Kunstform, ob Musik, Tanz oder Schauspiel.
Es muss einen Theatermacher verärgern, wenn eine schlechte Kritik, oder vorher noch, wenn der schlechte Eindruck, den ein Kritiker hat, auf mangelndem Wissen gründet. Nicht nur, weil es trifft, sondern, und vielleicht sogar in erster Linie, weil der Journalist als Teil der eben benannten Öffentlichkeit Verantwortung trägt - die der Meinungsbildung.
Weil der Journalist aber zumindest in unseren Landen die Meinungsfreiheit schützt und propagiert - und damit ist er dem Theater sehr verbunden - , darf er, genau wie das Theater, eigentlich alles.
Diese Freiheit aber als Verantwortung und nicht als Einladung zum Überschreiten von Grenzen zu betrachten, ist die Kunst: die des Schreibens und die des Spielens, die der Theatermacher wie die der Journalisten. Nur so entsteht, was wiederum Sinn und Zweck beider ist: ein Dialog.

Artikel vom 15.03.2006