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Heja-Hetze und falsche Pfiffe

Fußball-WM 1958: wie Titelverteidiger Deutschland im Halbfinale scheiterte

Von Klaus Lükewille
Göteborg (WB). Die Schweden? Kühle Köpfe im hohen Norden. Immer besonnen. Meistens freundlich. Und nie hysterisch. Mag ja alles sein, stimmt vielleicht. Aber an diesem 24. Juni 1958 garantiert nicht. Schon ein paar Stunden vor dem Anpfiff dröhnte rund um das Göteborger Ullevi-Stadion: »Heja, Heja, Heja!«

Fanatisch. Giftig. Feindlich. Wie der Aufruf zu einer Schlacht. Dabei ging es an diesem Tag lediglich um Fußball. Im Weltmeisterschafts-Halbfinale trafen Gastgeber Schweden und Titelverteidiger Deutschland aufeinander. »Es herrschte eine aufgeladene Atmosphäre«, erinnert sich Hans Schäfer noch heute: »Die Leute wirkten wie aufgehetzt.«
Denn schon vor der Arena und dann natürlich auf der Laufbahn am Spielfeldrand, da standen sie: die Fahnenschwenker und Einpeitscher. Heja, Heja, Heja.
Nie wieder hat es in Schweden eine solche »Stimmung« bei einer Sportveranstaltung gegeben. Die sonst so eiskalten Wikinger - sie mutierten zu heißen Fußball-Enthusiasten, die die Gäste von der ersten Minute an auspfiffen.
Schäfer, neben dem damals schon 38-jährigen Fritz Walter, Horst Eckel und Helmut Rahn der vierte Mann im Team, der auch schon in der Berner WM-Elf von 1954 gestanden hatte, er führte die Deutschen als Kapitän auf den Rasen. Bundestrainer Sepp Herberger beschwor die Spieler vor dem Anpfiff: »Männer, lasst euch nicht verrückt machen.«
»Verrückt« spielten aber nur die Zuschauer. Doch die so unfreundlich behandelten Gäste auf dem Rasen, sie antworten zunächst mit Taten und einem Tor. Ihr Ziel: Sie wollten wieder in das WM-Finale. Und die Tür stand schon ein Stück weit offen, als Schäfer (24.) den Führungstreffer markierte. »Wenigstens da«, blickt der Schütze zurück, »herrschte für einen Moment Ruhe in dem Stadion«.
Aber nicht lange. Dann ging es weiter. Heja, Heja, Heja. Und in doppelter Lautstärke, als Nacka Skoglund in der 34. Minute der Ausgleich gelungen war. Vorher hatte Schwedens Kapitän Nils Liedholm den Ball klar mit der Hand gespielt - aber es kam kein Pfiff vom Schiedsrichter.
Dieser Mann in Schwarz, er sollte an dem »schwarzen WM-Tag« entscheidenden Anteil am Spielverlauf und dem Endergebnis haben. Sein Name: Istvan Zsolt. Seine Heimat: Ungarn.
Ungarn? Warum musste ausgerechnet ein Ungar diese so wichtige WM-Partie leiten? Ein Mann aus dem Land, das mit Deutschland seit dem WM-Finale von 1954 ja noch eine alte Fußball-Rechnung offen hatte? Eine Frage, die danach auch in hohen Kreisen des Fußball-Weltverbandes gestellt wurde. Aber erst später. Zu spät.
Zsolt galt vor diesem WM-Halbfinale von Göteborg als erstklassiger Spielleiter. Aber um es vorsichtig auszudrücken: An diesem 24. Juni 1958 hatte er leider nicht seinen besten Tag. Die Gastgeber wurden eindeutig bevorteilt.
Wie in der 58. Minute. Kurt Hamrin trat gegen Erich Juskowiak nach, der Düsseldorfer Verteidiger trat zurück - und wurde vom Platz gestellt. Hamrin, der Provokateur, durfte weiterspielen.
Eine Szene, die Schäfer nie vergessen wird. »Der Jus stand mit weit aufgerissenen Augen da und rief immer nur: Der hat doch zuerst gefoult.« Er wollte nicht gehen. Schäfer und Fritz Walter führten ihn dann »ab«, brachten den Verzweifelten vom Feld.
Ein Schock, der aber nicht lange anhielt. Die deutsche »Zehn« war immer noch die bessere Elf. Bis Zsolt erneut beide Augen zudrückte und ein übles Foul übersah. Sigvard Parling hatte Fritz Walter in der 75. Minute von den Beinen geholt. Der Weltmeister wurde lange behandelt, kam dann nur als humpelnder Statist zurück.
Und draußen, ganz auf Rechtsaußen, musste er mit ansehen, wie Gunnar Gren (80.) und Hamrin (90.) ihre Elf doch noch ins Finale schossen. Heja, Heja, Heja.
Aber Herberger war ein fairer Verlierer: »Die Schweden haben verdient gewonnen. Sie stellen eine sehr gute Mannschaft.« Doch in der Heimat, da hatte die Partie der falschen Pfiffe und der miesen Pfeifkonzerte ein Nachspiel.
Schwedische Touristen waren auf einmal keine gern gesehenen Gäste mehr. Geschlossene Hoteltüren, Verweise aus Restaurants, Beschimpfungen, zerstochene Autoreifen: Auch viele Deutsche dachten in ihrer Wut und Enttäuschung nicht mehr daran, dass es ja nur ein Fußballspiel gewesen war, das da verloren wurde.

Artikel vom 11.03.2006