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»Justiz in NRW ist überlastet«

Richter warnen vor weiterem Stellenabbau - Landesweiter Protesttag

Von Hubertus Hartmann
Paderborn/Bielefeld (WB). In Münster musste ein Mörder aus der Untersuchungshaft entlassen werden, weil sich der Prozessbeginn unzumutbar lange hinzog. In Paderborn kommen Steuerhinterzieher in der Regel mit einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren davon, weil aufwändige Prozesse die Wirtschaftsstrafkammer über Wochen und Monate blockieren würden.

Keine Einzelfälle, sondern Alltag an nordrhein-westfälischen Gerichten. Obwohl Richter, Staatsanwälte und Justizbeamte schon heute deutlich überlastet seien, wolle die Landesregierung die Stellen um weitere sechs Prozent kürzen, kritisierte am Samstag der Landesvorsitzende der Deutschen Richterbundes (DRB), Jens Peter Gnisa aus dem lippischen Horn-Bad Meinberg. 1364 Stellen stünden zur Disposition. Mit einem landesweiten Aktionstag machte der Berufsverband der Richter und Staatsanwälte auf die sich ausweitende Justizmisere aufmerksam. Obwohl die 41-Stunden-Woche schon vor einem Jahr eingeführt worden sei, habe die Arbeitsbelastung weiter zugenommen. In Duisburg, Kamen, Moers, Schwelm und Paderborn tagten Strafkammern, Jugend- und Familiengerichte deshalb auch am Samstag. In Bielefeld gingen am Samstag Richter auf die Straße. In der Innenstadt wurden Flugblätter an Passanten verteilt. Allein im Landgerichtsbezirk Bielefeld, der neben Bielefeld auch die Kreise Gütersloh, Herford und Minden-Lübbecke umfasst, fehlten derzeit 50 Richter und 20 Staatsanwälte, sagte der Vorsitzende der Bezirksgruppe Bielefeld des Richterbundes, Christian Friehoff.
Mit dem Hinweis auf »Effizienzgewinn durch den Einsatz flächendeckender Informationstechnologie« seien von 1998 bis 2004 bereits 1884 Stellen (rund acht Prozent) in NRW »abgebaut« worden, erklärte Gnisa in Paderborn und sprach von einer »Milchmädchenrechnung«. »Denn in der Praxis sind wir technisch leider längst nicht so weit, wie man sich das wünschen würde.« Der DRB fordere die sachgerechte Ausstattung der Justiz sowohl mit moderner Technik als auch mit dem erforderlichen personellen Unterbau. Andernfalls kämen künftig noch mehr Untersuchungshäftlinge frei, weil ihre Verfahren nicht zeitnah verhandelt werden könnten, stiege die Kriminalität weiter, kämen Gläubiger noch später an ihr Geld, fürchtet der Richter am Oberlandesgericht Hamm.
Vor allem in komplizierten Wirtschaftsstrafsachen würden »aufgrund mangelnder Personal- und Sachmittelausstattung kaum noch angemessene Strafen verhängt«, warnte unlängst der Bundesgerichtshof.
Waren Urteilsabsprachen vor zehn, 15 Jahren noch verpönt, seien derartige Deals heute gang und gäbe - milde Strafe bei einem Geständnis und schnellem Prozess. Deutliche Alarmzeichen sieht Gnisa auch in der Tatsache, dass immer mehr Strafverfahren schon vor einer Anklageerhebung eingestellt würden.
An den Gerichten in Nordrhein-Westfalen wurde im Jahr 2004 rund 440 000 Registersachen bearbeitet, 476 000 Zivil- und 300 000 Strafprozesse geführt. Die Staatsanwaltschaften leiteten mehr als zwei Millionen Ermittlungsverfahren ein.

Artikel vom 06.03.2006