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Es wird höchste Zeit, etwas Wirksames dagegen zu tun - nicht nur am Weltfrauentag.

Leitartikel
Internationaler Frauentag

Du, Mann, stell dir
das mal vor


Von Bernhard Hertlein
Mann, stell dir vor, du wärst eine Frau. Absurd? Absurd sind ganz andere Dinge.
Absurd ist zum Beispiel, dass die Gehälter für Frauen in Europa nach wie vor 20 bis 50 Prozent niedriger liegen als die der Männer in vergleichbaren Positionen.
Absurd ist, dass in jedem Land die Arbeitslosigkeit der Frauen höher ist als die der Männer.
Absurd ist, dass gleichzeitig in jedem Land die Frauen bei der unbezahlten Arbeit im Haushalt oder in Ehrenämtern vorne liegen.
Absurd ist, dass weiter kein einziges der großen Börsenunternehmen von einer Frau geführt wird.
Immerhin - wir haben eine Kanzlerin, die erste, aber weltweit nur eine von sechs Frauen an der Regierungsspitze. Wir haben sogar eine Frau unter den Wirtschafts-»Weisen« -Êeine von fünf, die erste seit Bestehen der Bundesrepublik. Absurd ist, wenn wir das als großen Erfolg feiern.
Mann, stell dir vor, du wärst eine Frau in der Ukraine oder in einem der anderen Armenhäuser Osteuropas. Wenn du hübsch bist, kommen die Typen aus dem Westen und machen dir den Hof. Sie versprechen dir alles - und zwingen dich, im fernen Deutschland angekommen, anschließend in die Prostitution. Mann, stell dir vor, mit welchen Männern du es dann zu tun hättest - Typen vielleicht aus deiner unmittelbaren Nachbarschaft.
Mann, stell dir vor, du wärst ein Mädchen in Eritrea. Dann müsstest du Angst haben, dass dir demnächst jemand mit einer Rasierklinge oder einer Glasscherbe die äußeren Geschlechtsorgane entfernt - ohne Betäubung, mit unsäglichen Schmerzen nicht nur bei der »Operation«, sondern auch später beim Sexualverkehr.
Mann, stell dir vor, du wärst eine Frau im Iran. Dann dürftest du dein Gesicht nicht mehr in die Sonne halten, sondern müsstest unterm Tschador gehen. Musik wäre dir verwehrt, nur weil sie Vergnügen macht.
Mann, stell dir vor, du wärst eine Frau in Jordanien. Dann liefest du Gefahr, beim kleinsten Techtelmechtel die Ehre deiner Familie zu »beschmutzen« - und deshalb ermordet zu werden.
Mann, stell dir vor, du wärst eine junge Frau in Bangladesch. Der Mann, dessen Heiratsantrag du ablehnst, wird sich möglicherweise rächen, in dem er dir Säure ins Gesicht schüttet. Dann bist du ein Leben lang entstellt.
Mann, stell dir vor, du wärst ein Embryo im Bauch einer Mutter in China oder Indien. Deine Eltern stellen bei der Fruchtwasser-Untersuchung fest: Du bist ein Mädchen. In immer mehr Fällen wäre dies dein Todesurteil. Du wirst abgetrieben und niemals geboren.
Mann, stell dir das und vieles mehr einfach vor. Absurd? Gewiss. Aber auch wahr.
Da freut man sich doch, ein Mann zu sein?
Das genügt nicht. Mann kann -ÊMann muss - auch etwas dagegen tun. Nicht nur am heutigen internationalen Frauentag.

Artikel vom 08.03.2006