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Ostwestfalen genießen - eine kleine Anleitung


Von Michael Vesper,
Vizepräsident Landtag NRW
Ostwestfalen-Lippe gilt, von außen betrachtet, als Widerspruch in sich. Sagen wir es offen: Wir sind, wenn wir uns in anderen Teilen unseres Landes, etwa im Rheinland, bewegen, Außenseiter. Schon den Namen »Bielefeld« in urbaneren Gegenden in geselliger Runde auszusprechen, führt regelmäßig zu Lachsalven.
Das ist ungerecht, und es ist auch falsch. In Wirklichkeit liegt Ostwestfalen-Lippe nicht nur mitten in Deutschland (das hört sich besser an als »am östlichen Rand Nordrhein-Westfalens«), sondern ist in jeder Hinsicht »vorn«. Wir sind »Modellregion« - und darauf können wir stolz sein.
Dabei umfasst der Anspruch »Modellregion« nicht nur Seelenloses wie Bürokratieabbau und Bilanzen, sondern vor allem das wirklich Wichtige: die Kultur. Die sitzt nicht im Bremserhäuschen, wo manche sie vermuten, und auch nicht im Gesellschaftswagen. Sie sitzt in der Lokomotive. Sie zieht die »Modellregion« und schafft es damit, dieses Projekt in eine genussvolle Vision zu verwandeln.
Ostwestfalen-Lippe muss zu »der« Genießer-Region in Deutschland werden. Aber wie? Genießen ist angesichts der vielen Einflüsse von außen, der zunehmenden Schnelligkeit unseres Lebens, der Globalisierung nicht leichter, sondern schwerer geworden.
Die Jahreszeitlichkeit der Speisen geht verloren, denn irgendwo auf der Welt ist immer Sommer oder Frühling, und das Flugzeug überwindet die Jahreszeiten. Selbst Fernsehköche und andere Gourmets nehmen auf die Natur keine Rücksicht.
Das Gegenprogramm in Sachen Genießen in drei Punkten:
1. Man hüte sich vor den Rezepturen sogenannter Experten, die im Winter Kresse vorschreiben und im Sommer Kürbis. Nicht der Mensch ist für die Rezepte da, sondern die Rezepte für den Menschen. Oder, um es in der Sprache von Sepp Herberger zu sagen: Wichtig ist am Topf!
2. Und wichtig ist auf'm Markt. Wenn wir schon in einer »Modellregion« leben, dann müssen wir auch die in dieser Region produzierten Erzeugnisse verwenden. Die gibt es massig und gut. Unter ökologischen, aber auch unter ökonomischen Gesichtspunkten ist es am wichtigsten, dass die Lebensmittel aus der eigenen Region stammen.
Biologisch angebaute Pfifferlinge aus Süd-Uruguay sind in der Gesamtbilanz schlechter als konventionelle Steinpilz-Champignons aus der Senne. Und was gibt es Schöneres, als samstags über den Wochenmarkt zu schlendern, dabei Genuss-Visionen für das Wochenende zu entwickeln und diese sogleich in reale Kaufentscheidungen umzusetzen?!
3. Qualität erkennt man nicht an aufwändigen Zutaten und komplizierten Rezepten, sondern an den einfachen Wahrheiten. Will man beispielsweise ein italienisches Restaurant einschätzen, dann bestellt man Spaghetti Aglio e Olio. Was einem dann vorgesetzt wird, ist so aussagekräftig wie ein Wertgutachten über ein Haus, aber billiger. An den vermeintlich einfachen Speisen zeigt sich der Meister, nicht an vier verschiedenen Sorten Kresse und Pfifferlingen im Dezember.
Genussvolles Speisen ist kein isoliertes Geschehen, sondern das A und O des Menschseins. Wie viele Geschäfte, wie viele Karrieren, wie viele Ehen, wie viele Scheidungen begannen mit dem Satz »Wollen wir mal essen gehen?!« Das, was ihm folgt, deckt die gesamte Bandbreite menschlicher Existenz ab - vom philosophisch-politischen Diskurs über Börsengeschäfte bis zum Vor- oder Nachspiel einer anderen Art des Genusses.
Wir müssen allerdings aufpassen, dass uns der Nachwuchs nicht flöten geht. Ich kenne Kinder, die essen nur die bekannten Mehlstäbchen, genannt Pommes. Die haben noch nie eine mit Knoblauch gebratene Zucchini probiert. Eine Aubergine halten sie, wenn überhaupt, für ein französisches Jugendhotel.
Dabei ist es so leicht, Kinder an genussvolles Essen heranzuführen.
Nicht indem wir Fischstäbchen ächten. Nein, das Zauberwort heißt: Interesse wecken. Neugierig machen auf Genuss. Warum soll ein Kind sich nur für das Innenleben eines Vergasers interessieren, wo doch das Innenleben einer Pizza viel spannender ist?
Wer einmal mit Kindern gekocht und gebacken hat, weiß, dass die Küche ein idealer Spielplatz und Lernort ist. Hier gibt es Raum für Individualität und Phantasie, um den Spruch unserer Eltern »Mit dem Essen spielt man nicht!« zu ignorieren. Essen ist nicht nur Kraftstoff, sondern auch Performance.
Darum sollten wir Ostwestfalen es allen anderen zeigen: Wir sind die Region des Genießens und Genusses. Und wer es nicht glaubt, soll vorbeikommen. Wir können dann ja essen gehen.

Artikel vom 15.03.2006