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Merkels erste 100 Tage: mit
vielen kleinen Schritten ans Ziel

»Ich will Deutschland dienen« - Regieren als Kunst des Möglichen

Von Ulrich Scharlack
Berlin (dpa). Das Volk scheint zufrieden. Angela Merkel ist auf Platz 1 oder 2, wenn die Deutschen nach ihren beliebtesten Politiker gefragt werden. Sie sind demnach nicht schlecht gelaufen, diese ersten 100 Tage für die erste Kanzlerin Deutschlands. Auch die CDU erweckt den Anschein der Zufriedenheit.

Selbst CSU-Chef Edmund Stoiber soll Merkel im Vorstand seiner Partei neulich als »brillant« bezeichnet haben. SPD-Fraktionschef Peter Struck bescheinigt ihr, »ordentlich« zu arbeiten. Die Stimmung für Merkel ist so gut, dass sich erste Parteifreunde schon zur Warnung bemüßigt fühlen: ewig werde sie sicher nicht auf der Popularitätswelle schwimmen können.
Aus der Erfahrung von sechs Jahren als CDU-Vorsitzende schätzt Merkel das ebenso ein. Im Moment genießt sie den Zuspruch freilich, auch den vieler ausländischer Staats- und Regierungschefs. Und den Respekt, den sie nun auch von vielen Wirtschaftsbossen erfährt, die sie früher skeptisch betrachtet haben.
Die bunten Blazer hat die Kanzlerin in den Schrank gehängt. Sie tritt businessmäßig nur noch dunkel gekleidet auf. Das sieht mehr nach harter Arbeit aus, gemäß ihren Motto aus dem Wahlkampf: »Ich will Deutschland dienen«. Keine Posen wie in der Anfangszeit ihres Vorgängers. Ihr wird bescheinigt, kein Staatstheater zu spielen. Bescheiden bleiben, erste Dienerin des Staates sein. Erste Vergleiche mit einer Art weiblichem Helmut Schmidt drängen sich auf.
In ihrer Regierungserklärung am 30. November hatte Merkel angekündigt, dass das von ihr geführte Kabinett »viele kleine Schritte« unternehmen werde und nicht den einen großen. Das setzt oft mehr Hartnäckigkeit voraus, als den großen Sprung zu wagen.
Vor allem soll Verlass sein auf ihre Regierung, diese Zufallspartnerschaft aus Union und SPD. In diesen Tagen hat sie das nochmals unterstrichen. »Ganz nach oben setze ich erst mal ein Prinzip: Wir müssen raus aus dem Kreislauf von zu großen Erwartungen und dann wieder Enttäuschungen. Dieser Kreislauf hat im übrigen nicht erst mit Rot-Grün angefangen, sondern das geht lange zurück.«
Aber auch in der CDU werden natürlich schon die Bilanzen nach den ersten drei Monaten gezogen. Und der eine oder andere vermisst den Reformeifer bei der Kanzlerin. »Nun muss es aber losgehen«, ist so eine Anmerkung. Das Wachstumsprogramm von Genshagen? Na, ja ganz nett, lautet eine Auskunft. Wann kommen aber die richtigen Reformen? Und außerdem sei ja schon viel schief gegangen in der Regierung, meinen Kritiker. Als Beispiel führen sie das Hickhack um die Familienförderung oder die Rente mit 67 an.
Diejenigen, die die Regierung stützen, wie Unions-Fraktionschef Volker Kauder, machen eine andere Bilanz auf. Der Haushalt steht. Die Föderalismusreform scheint nun endgültig beschlossen, immerhin die größte Staatsreform seit 1949. Aber einige kleinere Gesetze, die in den vergangenen Jahren zwischen Rot-Grün im Bundestag und unionsgeführtem Bundesrat zu monatelangen Streit geführt hätten, sind fast verabschiedet. Beispiel: Arzneimittel-Sparpaket.
Aber es fällt schon auf, dass Merkel in der Außenpolitik prägnanter aufgetreten ist als in der Innenpolitik. Im Ausland verblüffte sie die Beobachter in Washington, Moskau, aber auch im Nahen Osten oder auf EU-Ebene. Nach innen haben das Spiel indes vor allem ihre Minister bestimmt, wie Vizekanzler Franz Müntefering bei der Rente mit 67 Jahren.
Kann sie aber anders handeln? Was bringt es, wenn sie für einen Tag die Richtung vorgibt und die Schlagzeilen bestimmt, aber dann nicht halten kann, was man vorgeschlagen hat, geben die aus ihrer Umgebung zurück. Genau das wolle sie ja tunlichst vermeiden, diese Diskrepanz aus Vorpreschen und den späteren Resultaten, was viele Gerhard Schröder attestiert haben. Letztlich zähle doch für die Bürger der Erfolg, die Verbesserung der Lage, heißt es. Regieren betrachtet Merkel als Kunst des Möglichen.
Und so versteht sie sich wie schon in den Koalitionsverhandlungen auch als Moderatorin in diesem Bündnis der beiden Volksparteien. Es entsteht aber auch der Eindruck, als präsidiere sie.
Merkel muss hinnehmen, dass die SPD sich - wie in der Iran-Politik von Parteichef Matthias Platzeck kurz vorgemacht - auch einmal auf ihre Kosten profilieren will. Einstweilen lobt sie auch den Teamgeist des Kabinetts, auch deshalb, weil die großen Belastungen wie die Gesundheitsreform oder eine Zuspitzung der Iran-Krise noch kommen können, von den möglichen Auswirkungen der Vogelgrippe ganz abgesehen.

Artikel vom 01.03.2006