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Mit Holzlineal und Buch die
hilfsbereite Lehrerin verprügelt

Bezirksregierung Münster gibt Ratgeber gegen Gewalt an Schulen heraus

Von Dietmar Kemper
Herford/Münster (WB). Weil er im Kunstunterricht keine Musik hören durfte, zückte ein Junge das Pfefferspray und besprühte damit seine Lehrerin.
Als Vertreter der Institution Schule geraten Lehrer ins Visier aggressiver Schüler. Manchmal, wie in dieser nachgestellten Szene, fliegen sogar die Fäuste. Am häufigsten kommen Beleidigungen vor.
Rainer Voßmeier greift an der Ernst-Barlach-Realschule durch.

Was wie eine Szene aus einem Film anmutet, ist in einer Schule im Regierungsbezirk Münster wirklich passiert. Genauso wie der folgende Fall: Ein Jugendlicher schlägt seine Mitschülerin mit einem Holzlineal und Buch blutig. Als die Lehrerin dazwischen geht, wird auch sie zum Opfer, erleidet Quetschungen und Platzwunden.
Brennende Augen, zerstochene Reifen, Prellungen: Noch sind das Ausnahmen im Alltag der Lehrer, aber die Fälle nehmen zu. Deshalb hat die Bezirksregierung Münster als erste in NRW einen 40-seitigen Ratgeber für die 26 000 Pädagogen in den gut 1000 Schulen herausgegeben. »Gewalt gegen Lehrkräfte« heißt er, schildert authentische Fälle, analysiert sie und gibt Empfehlungen für richtiges Verhalten. »Schule ist kein rechtsfreier Raum, Lehrer und Schulleiter sollten nicht zu viel Ermessensspielraum lassen«, sagte der Sprecher der Bezirksregierung, Stefan Bergmann, gestern dieser Zeitung. Manchmal seien Strafanzeigen die einzig richtige Reaktion auf Beleidigungen oder Handgreiflichkeiten.
Was für Münster gilt, trifft genauso auf Bielefeld, Paderborn oder Detmold zu. Schülern müssten notfalls vor Gericht ihre Grenzen aufgezeigt werden, mahnt die Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft GEW-OWL, Sabine Unger. Die Zahl der Beleidigungen, Sachbeschädigungen und tätlichen Angriffen nehme vor allem an Hauptschulen zu: »Lehrer melden uns viel mehr Fälle als früher.«
Am 13. Januar stand die 17-jährige Jacqueline aus Lemgo vor dem Jugendrichter in Blomberg. »Sie sind doch nicht richtig im Hirn!« hatte sie ihren Lehrer an der Anne-Frank-Schule angeblafft. Der stellte daraufhin Strafanzeige. Solche Prozesse kannte der Jugendrichter Uwe Kaboth bereits: Er habe schon etliche Schüler vor sich sitzen gehabt, die ihre Lehrer mit schlimmsten Obszönitäten beleidigt hätten, erzählte er.
Vor knapp zwei Wochen schubste ein Sechtsklässler der Ernst-Barlach-Realschule in Herford einen Lehrer auf dem Pausenhof, als dieser den Streit mit einem anderen Kind schlichten wollte. Schulleiter Rainer Voßmeier griff durch und suspendierte den unbeherrschten Jungen für drei Tage vom Unterricht. Er muss mit weiteren Konsequenzen rechnen. »In dieser Woche wird sich die Disziplinarkonferenz mit dem Vorfall befassen«, sagte Voßmeier gestern.
Mit seinen Lehrerinnen und Lehrern tut Voßmeier alles, damit Konflikte erst gar nicht entstehen oder sich zumindest nicht ausweiten. Die Unterrichtenden machen ihre Schüler mit Streitschlichtungsprogrammen vertraut, außerdem ist »Soziales Lernen« Pflichtfach in Klasse 5.
Das ist der richtige Weg, aber manchmal führt er nicht ans Ziel. »Verbale Entgleisungen von Schülern und Eltern« seien »fast täglich zu verzeichnen«, heißt es im Ratgeber der Bezirksregierung Münster. Bei Beleidigung, Bedrohung, Nötigung, Körperverletzung und Sachbeschädigung sollten sich Lehrer nicht scheuen, Strafanzeige zu erstatten. Nach Paragraf 19 Strafgesetzbuch sind Schüler ab dem 14. Lebensjahr strafmündig. Wenn der Schüler zum Zeitpunkt seiner Tat die Einsicht haben konnte, dass er auch die Verantwortung dafür übernehmen muss, liegt bei ihm außerdem, juristisch gesprochen, Deliktsfähigkeit vor. Leider versuchen Schulleiter aus Sorge um den Ruf der Einrichtung, Fälle von Gewalt gegen Lehrer kleinzureden. Statt wegzuschauen wäre aber Durchgreifen angezeigt.

Artikel vom 28.02.2006