22.03.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Für ein Butterbrot oder gleich zum Nulltarif sichern sie sich das Skelett und die Innereien dieser Gebäude und Einrichtungen; alles, was man irgendwie aufpolieren und als Antiquität wieder verkaufen kann, netter Schnickschnack aus der Vergangenheit als Accessoires für moderne Wohnungen, Pubs und Hotels. Erbarmungslos schilderte MacGillycuddy, wie sie Bodenfliesen herausrissen, Treppengeländer und Pfosten wegschafften, Lampenfassungen, Türgriffe, Ladenschilder, Laternen und Teekessel mitnahmen, Klavierbeine absägten, Marmorplatten von Tischen montierten, Kranzleisten und Stukkaturen zerstückelten; wie sie sich durch Kartons wühlten, auf der Suche nach alten Bilderrahmen, Fotografien, Reklametafeln und Konzertprogrammen, wie sie in Kleiderschränken nach Hüten, Hochzeitskleidern und altmodischen Schuhregalen suchten.
»Stop!«, schrie ich. »Aufhören, bitte.«

D
as war weit schlimmer als alles, was ich mir vorgestellt hatte. Großer Gott, konnte es solche Menschen überhaupt geben? Und wir, waren wir ein Entrümpelungsjob für ihn? Konnte es sein, dass wir für ihn nur Aas waren, dass er bei uns den Tod gewittert hatte, noch bevor wir selbst etwas davon geahnt hatten, dass er sich Bel als seinen ganz persönlichen Schatz herausgepickt hatteÉ Wut kochte in meinen Adern. Doch gleichzeitig hörte ich in meinem Innern das Wimmern einer ängstlichen Stimme: Wer würde mich rauben? Auf welchem Kaminsims würde ich enden?
»Alles in Ordnung?«, fragte MacGillycuddy.
Was konnte ich sagen? Um mich herum brach alles zusammen. Plötzlich kam mir unsere Vernichtung nicht nur unerbittlich, sondern auch absolut logisch vor. Es blieb nur eine einzige Möglichkeit.
»Wie war das noch mal, wenn man seinen eigenen Tod vortäuschen will?«


Vier
Aber das ist so drastischɫ
»Überhaupt nicht. Sie wären überrascht, wie viele Leute das heute machen.«
MacGillycuddy saß mir gegenüber auf der Bank, an seinem Bein lehnte ein Postsack. »Leute aus allen Schichten machen das, vom reichen Rechtsanwalt bis zum einfachen Gemüsehändler. Das kommt viel öfter vor, als Sie glauben.«
Über unseren Köpfen hüpfte eine Amsel auf dem bröckelnden Dachgesims herum. MacGillycuddys Stimme schien von weit her zu kommen. »Die Sache mit dem Tod schlägt Ihnen aufs Gemüt. Das ist eine ganz natürliche Reaktion:Man hört das Wort, und schon macht man sich Sorgen. Aber der Punkt ist, dass Sie ja gar nicht sterben. Sie tun nur so. Ich weiß, das ist ein großer Schritt, das will ich gar nicht abstreiten. Aber eigentlich ist da nicht mehr dabei, als wenn Sie Ihre Küche renovieren lassen, zum Beispiel, oder sich ein neues Auto kaufen.«
»HmmÉ« Vor der Pavillontür hing ein dichter Efeuvorhang, der das einfallende Licht filterte. Das alles wurde wahrscheinlich nur noch durch Efeu zusammengehalten, dachte ich mürrisch. In diesen Winkel des weitläufigen Obstgartens kam niemand mehr.
»Eine zweite Sache, worüber die Leute sich oft Sorgen machen, ist der Verlust der Identität«, sagte MacGillycuddy. »Keine Frage, die Identität eines Menschen ist was sehr Spezielles. Nur die Identität sagt uns, wer wir sind, und deren Verlust ist was, mit dem jeder Kunde selbst klarkommen muss.« Er rutschte auf der Bank herum und hob philosophisch den Finger. »Wichtig ist eine positive Einstellung. Hat keinen Sinn, seinen Tod vorzutäuschen, wenn man nicht das Beste draus machen will. Was ich meine, ist Folgendes: Sie müssen das als Chance begreifen. Denken Sie nicht dran, dass Sie Ihre echte Identität verlieren, stellen Sie sich vor, Sie tauschen eine alte gegen eine neue ein. Wie viele Leute kommen schon in den Genuss von zwei Identitäten?« Er schaute mich neugierig an.
»Nicht viele«, räumte ich ein.
»Genau. Also, amüsieren Sie sich. Denken Sie an jemanden, der Sie schon immer sein wollten, und É na ja, sicher haben Sie schon selbst jede Menge Ideen. Ich will nur sagen, das muss keine schlechte Sache sein. Ich hab das jetzt schon ein paarmal durchgezogen, und ich sag Ihnen ganz ehrlich, es gibt vieles, weshalb ich Sie jetzt beneide, dass Sie einfach so Ihr altes Leben und die Lieben daheim abhaken können. Das Ganze ist wie ein großer Urlaub. Na, was ist, hört sich das nicht verlockend an?«

I
ch dachte darüber nach. Mal abgesehen von der Verkaufsmasche, MacGillycuddy schien sich mit Versicherungsbetrug wirklich gut auszukennen, und obwohl ich immer noch ein Zwicken in der Magengrube spürte, war ich doch inzwischen etwas weniger empfindsam. »Und es ist sicher, dass die Versicherung zahlt?«
»So sicher wie das Amen in der Kirche.« Er klatschte sich mit der Urkunde auf den Oberschenkel. »Tod durch Unfall, kann gar nichts schief gehen.« Von draußen war ein leises Knirschen zu hören; Mrs P schleifte den Müllsack die Einfahrt hinunter zum Tor. Als MacGillycuddy mich immer noch schwankend sah, machte er weiter. »Also, noch mal. Die Zahlen sind wir durchgegangen. Sie sind nicht der Erste in so einer Lage. Sie machen sich Sorgen um Ihre Familie. Die Bank will Ihnen das Haus wegnehmen. Sie haben ein Problem, das ist die Lösung. So einfach ist das.« Er machte eine sokratische Pause, drückte das Kreuz durch und trank einen großen Schluck Milch.

I
ch verschränkte die Finger und betrachtete die verzogenen Bodendielen. Es war einmal, bevor alles den Bach runterging, dass Patsy Olé und ich, rhythmisch begleitet von Knarzen und Rascheln und weit enfernten Wellen, hier auf dem feuchtkalten Holzboden eine glückliche Nacht verbracht hatten. Und nun das Haupt zu beugen und einfach so abzutreten, das war É Die Größe des Vorhabens machte es mir schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Doch Größe war jetzt gefragt: Mut, Opferbereitschaft, die würdevolle Noblesse des wahren Aristokraten - sprezzatura, etwas Grandioses, Selbstloses, Absurdes, das man den Golems ins Gesicht schleudern konnteÉ
»Nun?«
Diese Zeile von Yeats: Versag, und die Geschichte verwandelt sich zu Abfall, und die großartige Vergangenheit zum Irrweg von IdiotenÉ
»Ja, ich mache es.«
»Gut«, sagte MacGillycuddy mit faustischem Leuchten in den Augen, griff in seine Jacke und holte Stift und Papier hervor. »Dann zu den EinzelheitenÉ«

M
an könnte annehmen, etwas zum Abschluss zu bringen, das so verschlungen war wie ein Leben, würde einiges an Arbeit verursachen. So viele lose Enden, die es zu verknüpfen, so viele letzte Schritte, die es zu choreographieren galt! Doch zu meiner Überraschung - zu meiner Bestürzung - ergab sich nach diesem Morgen alles wie von selbst. Die verbleibenden Tage verstrichen so schnell, dass sie mir wie eine Minute vorkamen - vom Gespräch mit MacGillycuddy in dem verfallenden Pavillon bis zu jenem Samstag, an dem ich durch die Vorhänge verschlafen in die wachsweiße Morgendämmerung blickte, auf den von einem Raureifteppich überzogenen Rasen und in die kristallblaue Ferne, wo kreischende Möwen über der Morgenfähre hingen, jenem Samstag, an dem ich am Nachmittag, um die Leere der endlosen letzten Stunden zu füllen, wie ein Geist durch die Räume im Erdgeschoss strich oder in der Küche herumwuselte und Mrs P auf die Nerven gingÉ
»Tun Sie da kein Ginseng rein?«
»Nein.« Sie nahm ein Glas mit Kräutern aus dem Regal. »Ich habe schon gesagt, Master Charles, wir haben im Haus kein GinsengÉ«
»Gut, gut, aber was ist mit Nashorn? Haben wir denn kein gemahlenes Nashorn da?«
»Master Charles, das Rezept, von dem Sie sprechen, ich kenne nicht. Ich bin ganz sicher, in Osso Buco kommt kein Ginseng oder Nashorn oder Spanische Fliege oder was Sie sonst alles sagen.«
»Na gut, einverstanden, aber É aber es gibt doch wenigstens Austern, oder? Mrs P?«
»Ja, Master Charles. Aber es ist schwer zu arbeiten, wenn Sie mir schauen dauernd über die SchulterÉ«
»Oh É tja.«
»Und wenn Sie die ganzen Kekse aufessen, dann haben Sie keinen Hunger mehr für Abendessen.«
»Ich kann einfach nicht anders«, sagte ich kleinlaut und machte den Deckel der Dose wieder zu. »Ich kann einfach nicht aufhören, das sind die Nerven oder so.«
»Hmm.« Sie nahm eine Prise Korianderpulver aus einem Glas, streute sie in eine dampfende Pfanne und rührte um.
»Master Charles, bitte entschuldigen Sie, aber ich habe gehört, wie Sie vor ein paar Tagen gesprochen haben mit Miss BelÉ«
»Ah ja?«
»Ja«, sagte sie zögernd, ohne sich zu mir umzudrehen. »Sie haben gesagt, dass die Bank kommt und das Haus wegnimmtÉ«
Jetzt drehte sie sich zu mir um. Sorgenfalten umrahmten ihre erschöpften Augen. »Was passieren, Master Charles? Wohin gehen wir?«

I
ch glaubte nicht, das mit ihr diskutieren zu müssen, schließlich war das vornehmlich Angelegenheit der Familie, nichtsdestotrotz verdiente sie, beruhigt zu werden. »Machen Sie sich wegen der Bank keine Sorgen, Mrs P. Ein Missverständnis, nichts weiter.« Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter und fügte in vertraulichem Ton hinzu. »Kein Problem, ich hab das im Griff.«
Viel Trost schien sie daraus nicht zu schöpfen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 22.03.2006