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Sie wollen die Elemente des Stücks hervorheben, die auch heute noch aktuell sind, und sie glauben, das ich das nicht kann. Ich meine, sie haben ja Recht, es gibt nicht so viele Rollen für falsche PrinzessinnenÉ« Während der beiden letzten, bitteren Worte löste sich die pralle Träne und lief schnell an ihrer Backe hinunter. Und ich saß da, schaute sie an und wünschte, ich wäre nicht so unnütz und die wenigen uns trennenden Zentimeter Diwan würden mir nicht vorkommen wie tausend Meilen, sodass ich ihr vielleicht etwas Tröstendes hätte sagen können, anstatt aufzustehen und die getrockneten Blumen auf dem Kaminsims zu inspizieren. Anderer Leute Träume machten mich immer verlegen, besonders, wenn sie unerfüllt blieben.

E
in Vorsprechen, das hatte MacGillycuddy also gemeint, und es erklärte auch, was sie jeden Morgen in ihrem abgeschlossenen Zimmer gemacht hatte, als ich geglaubt hatte, sie brächte Frank das Lesen bei. Es erklärte wahrscheinlich auch Frank selbst; tatsächlich war wohl nichts realer als Frank, und mit halben Sachen gab Bel sich nicht ab. Sie wollte so viel von der Welt, es gab so viel, das sie ausdrücken wollte. Dafür würde sie sich, wenn nötig, von ihrem eigenen Leben abwenden. Sie würde ihre eigene Vergangenheit in die Luft jagen, würde mit einem Kriminellen ins Bett gehen, würde sich hinlegen und über Realismus nachdenkenÉ

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nd dann dieser Tschechow, in den sie vernarrt war, seit sie in ihrer Schule eins seiner Stücke aufgeführt hatten. Schon Wochen vorher war sie in ihrem silberfarbenen Kimono mit den riesigen kirschroten Blumen wie ein Wandermönch durchs Haus gestreift und hatte unablässig ihren Text vor sich hingemurmelt (mit dem Ergebnis, dass sie am Abend der Aufführung einen totalen Blackout gehabt hatte). Noch heute, wenn man den Fehler beging, sie zu fragen, was denn an Tschechow so großartig gewesen sei, erging sie sich nicht nur in langen, flammenden Vorträgen darüber, dass er die prägenden Stücke des zwanzigsten Jahrhunderts geschrieben habe, sondern auch darüber, dass er als Arzt die Tuberkulose von tausenden von Bauern behandelt, ein Theater gegründet, seine schreckliche Alkoholikerfamilie unterstützt und seine Frau selbst dann noch geliebt habe, als sie schon eine Affäre hatte, und dass er tatsächlich trotz allem fähig gewesen sei, die Menschen zu lieben, sich ihre Geschichten anzuhören und zu versuchen, aufrichtig zu ihnen zu seinÉ
»Es ist dieses Haus«, sagte sie mit der trägen, monotonen Stimme von Mutter, wenn sie einen ihrer schlechten Tage hatte. »Es gibt mir das Gefühl, als ob ich jetzt schon verbraucht wäre. Solange ich hier bleibe, werde ich nie woanders meinen Platz findenÉ« Sie hob plötzlich den Kopf und schaute mich mit verstörtem, gleichzeitig anklagendem wie flehendem Gesichtsausdruck an. »Begreifst du nicht, Charles? Vielleicht ist es für uns beide besser, wenn wir keine Lösung finden mit der Bank. Vielleicht können wir uns dann von diesem Haus befreien.«

I
ch schaute sie stumm an. Von diesem Haus befreien? Meinte sie das ernst? Begriff sie nicht, dass Amaurot etwas Besonderes war, dass das, was wir hatten, etwas Besonderes war? Wusste sie nicht, dass außerhalb dieses Hauses alles weniger war, kleiner, bedeutungsloser, mittelmäßig? Aber sie meinte es ernst. Sie erwartete eine Antwort von mir und nagelte mich mit ihrem komischen Blick an die Wand, als taxierte sie das Innerste meines Wesens. Dann stapfte glücklicherweise Frank ins Zimmer, und ich nutzte die Gelegenheit, um den Bann zu brechen. Ich ging zum Barschrank und schenkte mir einen Scotch mit Soda ein, den ich absichtsvoll bedächtig trank, um ihr vorzugaukeln, ich dächte eingehend über das nach, was sie gesagt hatte. Ein paar Sekunden später war ich schon wieder gelassener. Ich nahm das Glas von den Lippen und erklärte ihr in verständigem, unparteiischem Ton, dass sie ihre Urteilskraft von diesem für sie natürlich enttäuschenden Vorsprechen nicht trüben lassen solle, dass wir, anstatt unüberlegte Schritte zu unternehmen, doch erst mal versuchen sollten, diese Bankgeschichte zu klären und dann weiterzusehen. Doch sie hatte sich schon umgedreht und widmete ihre ganze Aufmerksamkeit Frank, der ihr mit Grunzlauten und fuchtelnden Armen die Einzelheiten seines Racheplans erläuterte. Ich verspürte keine Lust, ihn zu unterbrechen, und übersetzen war auch unnötig. Franks bestialisches Gestammel war erstaunlich eloquent. Überdeutlich sah ich all die zerberstenden Fenster, die wirbelnden Fäuste, die Flammen. Da ich ohnehin schon ziemlich mitgenommen war, wurde mir die Atmosphäre jetzt etwas zu apokalyptisch. Ich schenkte mir Whisky nach und sagte Bel, wir würden später weiterreden. Keine Ahnung, ob sie mich überhaupt hörte.
Während ich die Treppe hinaufging, dachte ich wieder über ihre Worte nach. Sie war einfach durcheinander, sagte ich mir, und versuchte mir einzureden, dass sie nur eine schwierige Phase durchmachte - schließlich war Bels Leben immer eine mehr oder weniger ununterbrochene Serie von schwierigen Phasen gewesen. Aber ich wusste auch, dass dieses gescheiterte Vorsprechen für sie mehr als nur eine vorübergehende Schlappe war. Sie träumte in großem Maßstab, und sich selbst sah sie mit jeder Faser im Zentrum dieser Träume; kleinere Missgeschicke und Rückschläge schlugen als riesige Wellen über ihr zusammen und drohten sie unter sich zu begraben. Wenn sie aufgrund irgendeines elliptischen Denkprozesses zu dem Schluss gekommen war, dass das Haus zwischen ihr und dieser Rolle stand, zwischen ihr und der strahlenden Zukunft, die sie sich für sich ausmalte, dann war es fast unmöglich, sie zum Bleiben zu bewegen.

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eine Aufgabe war klar. Ich musste einen Weg finden, um Amaurot zu retten. Ich musste Bel zeigen, dass das möglich war, dass, anders als die wechselhafte, unbeständige Welt da draußen, Amaurot immer ein Zufluchtsort sein würde, in dem wir perfekt leben konnten, wo wir die Zeit nach Belieben vor- oder zurückdrehen oder anhalten konnten. Ich tue es für sie, sagte ich mir, aber in meinem Herzen wusste ich, dass, wenn sie wirklich ging, das Spiel auch für mich gelaufen war. Was wäre Amaurot ohne sie? Nichts weiter als eine verlassene Filmkulisse und ich der schmale Schatten eines von Regie, Ton und Kamera im Stich gelassenen Schauspielers, der seinen Text ohne Publikum deklamierte É Mit dem Whiskyglas auf dem Bauch lag ich auf dem Bett und malte mir auf der Zimmerdecke Strategie um Strategie aus. Aber in jedem Einfall versteckte sich ein unüberwindliches Hindernis. Schließlich blieb nur eine Möglichkeit übrig, und die war so entsetzlich, dass ich zu zittern anfing und in meinem Glas die Eiswürfel klimpertenÉ
»Charles!«
Ich öffnete die Augen. Draußen war es dunkel. Wie lange lag ich schon hier?
»Charles!« Bel rief aus der Halle. »Telefon!«
Ich lief die Treppe hinunter. »Das Luchsauge«, sagte Bel und gab mir das Telefon.
»Ah ja, richtig«, sagte ich nonchalant. »Wir wollten morgen Tennis spielen.« Ich nahm ihr das Telefon ab. »M?«, flüsterte ich auf dem Weg ins Musikzimmer.
»C?«
»Die Lage hat sich geändert. Wir müssen jetzt schnell handeln. Kommen wir gleich zur Sache.«

L
uchsauges Goldsiegel-Erfolgsgarantie war kein leeres Versprechen gewesen. In den wenigen Stunden seit unserer Unterredung hatte er alle möglichen Informationen über meinen Widersacher zusammengetragen. Wie ich schon vermutet hatte, kam Frank aus einer üblen Gegend, hatte eine furchtbare Schule besucht, die jedes Jahr mindestens einmal abgefackelt wurde, war mit der schlechtesten Note unter zwielichtigen Umständen abgegangen, hatte nie geheiratet, wird aber dennoch verdächtigt, Vater eines oder mehrerer Kinder aus vorgenannter Gegend zu sein, hatte eine Technikerschule absolviert - Autospengler (ein Jahr) und Autospengler für Fortgeschrittene (ein Jahr) - und war dann mit den UN-Friedenstruppen nach Übersee gegangen. »Nach den Friedenskämpfern«, sagte MacGillycuddy, »hat er bei einem Schrotthändler in Dublin gearbeitet, und danach ist er ins Entrümpelungsgewerbe eingestiegen. Letztes Jahr hat er sich dann selbstständig gemacht.«
»Entrümpelungsgewerbe? Was ist das denn?«
»Im Wesentlichen gehtÕs darum, alten Trödel aufzutreiben, das Zeug aufzupolieren und dann mit gigantischem Gewinn wieder zu verkaufen«, erklärte mir MacGillycuddy.
»Wie Antiquitäten?«
»NeinÉ« MacGillycuddy schien unschlüssig, ob er das Thema vertiefen sollte. »Es ist mehr É na ja, sagen wir so, Antiquitäten verhalten sich zum Entrümpelungsgewerbe wie Museen zu Grabräuberei.«
Ich erbleichte.

D
ie Jagdgründe für den Entrümpelungsfachmann, fuhr er fort, sind baufällige Villen, Pleite gegangene Tante-Emma-Läden, stillgelegte Fabriken, Krankenhäuser, Bahnhöfe. Eben alles, was harten Zeiten zum Opfer fällt, was die wechselhafte Wirtschaft als nicht überlebensfähig aussortiert und somit zum Tode verurteilt. Wie Krähenschwärme machen sich die Entrümpelungsleute darüber her: bei Auktionen, in herrenlosen Räumen, auf noch schwelender Asche. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 21.03.2006