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Eiseilige verpasst den Rekord

Claudia Pechstein plädiert für ein Eisschnelllauf-Profi-Team in Berlin

Turin (dpa). Claudia Pechstein verplapperte sich in der Aufregung, ihr Trainer zitierte würdevoll Goethes »Faust«: Bei einer stürmischen Umarmung nach Mitternacht entluden sich beim deutschen Erfolgs-Duo im Champions Club die Emotionen.

»Zum Augenblicke dürft' ich sagen: Verweile doch, du bist so schön«, meinte Joachim Franke ergriffen und ließ die 15 Jahre der Zusammenarbeit mit der Berliner Ausnahmeläuferin noch einmal Revue passieren.
Dabei war die »Eis(h)eilige« zuvor nur um eine Sekunde am Rekord für die Ewigkeit vorbei geschrammt. In einem dramatischen 5000-Meter-Duell mit der Kanadierin Clara Hughes verpasste sie drei Tage nach ihrem 34. Geburtstag das vierte Gold in Serie, das noch nie ein Wintersportler in einer Einzel-Disziplin erkämpfen konnte. »Dieses Silber glänzt goldig«, meinte sie dennoch überglücklich nach ihrer neunten olympischen Medaille, mit der sie nun Platz fünf in der Hierarchie aller Wintersportler einnimmt.
Bis fast fünf Uhr dauerte die feuchtfröhliche Party in der Berliner »Residenz« am Po. Nur wenige Stunden später durfte Pechstein in Turin zum zweiten Mal nach 1994 die deutsche Flagge bei der Abschlussfeier Olympischer Winterspiele tragen. »Niemand hat uns zugetraut, dass sie in 14 Jahren fünf Mal hintereinander über 5000 Meter auf dem Treppchen steht. Fantastisch«, bedankte sich Franke rührend bei seiner Musterschülerin. Für den 65-Jährigen dürfte das 20. Edelmetall - darunter neun Mal Gold - der olympische Schlusspunkt seiner unnachahmlichen Karriere gewesen sein. Aufhören wird der Berliner mit Sicherheit nicht. »Turin ist Geschichte, wir denken an Vancouver«, meinte Franke, doch das Grinsen relativierte die Aussage.
Nachdem er in Turin seine berufliche Zukunft an die Entscheidung »seiner« Athletin geknüpft hatte, ließ sich auch Claudia Pechstein erstmals Worte über ihre sportliche Zukunft entlocken. »Beim Urlaub auf den Malediven werde ich entscheiden, wie lange ich noch weiter mache. Damit habe ich mehr verraten, als ich eigentlich wollte: Ich werde also auf jeden Fall weitermachen.«
Nach dem insgesamt schlechtesten Olympia-Abscheiden deutscher Eisschnellläufer seit 30 Jahren ging Franke noch am Abend der Glückseligkeit zur scharfen Analyse der Missstände über. »Die Herren sind völlig am Boden, die Damen im Sinkflug. Jetzt müssen Fetzen fliegen. Die gutgläubigen Träumer sollten schnell umdenken«, forderte Franke, nachdem Gold für das Team sowie Silber für Pechstein und Bronze für Anni Friesinger über 1000 Meter die Ausbeute blieben.
Franke will nun die Tagung der Deutschen Eisschnelllauf-Gemeinschaft (DESG) am 23. März abwarten und dann seine Strategie entwickeln. In Berlin ist der Gedanke vom ersten Profi-Team in Deutschland mit starken Herren aus dem Ausland indes aktueller denn je. »Das wäre ein Traum für mich. Ich halte es für legitim, so etwas jetzt in Angriff zu nehmen«, sagte Pechstein. Auch die DESG würde ihr keine Steine in den Weg legen. »Warum? Der Verband würde doch damit Geld sparen. Das einzige wäre, dass wir gleichberechtigte Qualifikationen für alle organisieren müssten«, meinte Präsident Gerd Heinze. Ein starkes Team mit professioneller Betreuung würde jährlich mindestens 1,5 Millionen Euro kosten, im deutschen Eisschnelllauf eine völlig neue Dimension.

Artikel vom 27.02.2006