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Krankenkasse will nicht hören

Handwerksmeister klagt vor Sozialgericht um zweites Ohr-Implantat

Von Christian Althoff
Bielefeld (WB). Ein Handwerksmeister aus Bielefeld klagt vor dem Sozialgericht Detmold gegen seine Krankenkasse. Der nahezu taube Mann, dessen rechtes Ohr seit 2002 mit einem Implantat versorgt ist, möchte sich auch in sein linkes Ohr eine Hörhilfe einpflanzen lassen. Das lehnt die Kasse aber ab.
Der Empfänger (1) fängt Schall mit einem Mikrofon auf und leitet ihn über ein Kabel (2) an den Sender (3). Der erreicht durch die Kopfhaut hindurch den Empfänger, der die Impulse über eine Elektrode (4) in die Schnecke (5) führt.

Hermann Aufderheide (57) ist seit seiner Kindheit quasi taub. Seine Innenohren sind geschädigt, die Ursache wurde nie gefunden. »In der Schule kam ich nur in den Fächern gut mit, in denen die Lehrer vorne standen, so dass ich unbewusst von ihren Lippen ablesen konnte. Bei anderen Lehrern, die im Klassenraum umherliefen, war ich aufgeschmissen und musste mir den Stoff anlesen«, erinnert sich der selbständige Heizungsbauer und Landmaschinenmechaniker. Erst als junger Mann habe er ein Hörgerät bekommen, mit dem er sich »mehr schlecht als recht« durchs Leben geschlagen habe. »Aber erst mit 33 Jahren besaß ich ein Hörgerät, mit dem ich auch telefonieren konnte - zum ersten Mal in meinem Leben.« Trotz dieser Hörhilfe sei es ihm aber beispielsweise nicht möglich gewesen, einen synchronisierten Film zu sehen: »Der Fernsehton ist für uns Schwerhörige meist nur sehr schlecht zu verstehen, und mit dem Ablesen von den Lippen kommt man ja bei ausländischen Filmen auch nicht weiter«, erzählt der 57-Jährige, der heute Ortsvereinsvorsitzender des Deutschen Schwerhörigenbundes ist.
Zur Wende im Leben des Bielefelders kam es 2002, nachdem ihm in der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) ein sogenanntes Cochlea-Implantat eingesetzt worden war. In der dreistündigen OP frästen Ärzte dem Patienten zunächst am Hinterkopf eine Vertiefung in Größe einer Armbanduhrbatterie in die Schädeldecke. In dieses Loch setzten sie einen kleinen Empfänger aus Metall, von dem sie eine Elektrode in die Hörschnecke (lateinisch: Cochlea) führten. Dann verschlossen sie die Wunde wieder. Ein kleines Gerät, das Hermann Aufderheide jetzt an seinem linken Ohr trägt, fängt den Schall auf und wandelt ihn in elektrische Signale um. Diese werden zu einer Euro-Münzen-großen Spule geleitet, die der Bielefelder sich auf den Hinterkopf setzt: »Sie ist magnetisch und findet Halt über dem implantierten Empfänger.«
Das Hören mit dem Cochlea-Implantat sei mit dem eines gesunden Menschen nicht gleichzusetzen, sagt der 57-Jährige. Aber der Unterschied zu einem herkömmlichen Hörgerät sei enorm. »Erst mit dem Implantat merkte ich, was mir vorher entgangen war. Ich entdecke noch heute immer neue Geräusche. Als ich etwa vor einigen Tagen im Garten war, bemerkte ich ein Rauschen und Plätschern - es war das Wasser im Regenrohr, dass ich früher nie gehört hatte!«
Da Hermann Aufderheide an seinem rechten Ohr nur ein konventionelles Hörgerät trägt, fehlt ihm trotz des einseitigen Implantats die Fähigkeit des Richtungshörens. Auch muss sich der Bielefelder immer rechts von den Menschen aufhalten, mit denen er sprechen möchte - im Alltag ein großes Handicap. Deshalb beantragte der Handwerker bei der Betriebskrankenkasse Dr. Oetker, auch das zweite taube Ohr mit einem Cochlea-Implantat zu versorgen. Das lehnte die Kasse mit dem Hinweis ab, Cochlea-Implantate seien bislang »grundsätzlich« nur einseitig eingesetzt worden, gesicherte Studien, die eine beidseitige Versorgung rechtfertigten, gebe es nicht.
Damit wollte sich Hermann Aufderheide nicht zufriedengeben und reichte beim Sozialgericht Detmold Klage ein. Das Gericht beauftragte daraufhin den Direktor der Universitäts-HNO-Klinik Münster mit der Begutachtung des Bielefelders. Prof. Dr. Wolfgang Stoll kommt zu dem Ergebnis, dass bei Hermann Aufderheide aus medizinischer Sicht die Voraussetzungen für die Versorgung mit einem zweiten Implantat »absolut gegeben« sind. Das rechte Ohr sei nahezu taub. Mit einem Cochlea-Implantat könne das Hörvermögen insgesamt »wesentlich verbessert« werden. Insbesondere das Richtungshören und das Verstehen von Wörtern würden sich positiv entwickeln, heißt es in der Expertise. Außerdem seien in Deutschland sehr wohl schon Patienten mit zwei Implantaten versorgt worden, und es hätten sich »wesentliche Vorteile« gezeigt.
Rechtsanwalt Karsten Schröter aus Bielefeld, der den Handwerksmeister vertritt: »Natürlich kann ich nachvollziehen, dass eine Kasse einen Eingriff scheut, der einschließlich Nachsorge bis zu 60 000 Euro kosten kann. Andererseits geht es hier aber nicht um eine Luxusversorgung, sondern darum, das Hörvermögen meines Mandanten auf ein Niveau zu bringen, das selbst mit einem zweiten Implantat noch immer sehr weit unter dem der meisten Menschen liegen wird. Die Krankenkasse sollte deshalb auf den Gutachter hören.«
Hermann Aufderheide hofft, dass das Sozialgericht in Kürze zu seinen Gunsten entscheidet. Der 57-Jährige bringt seine Sicht der Dinge auf einen einfachen Punkt: »Wer zwei kranke Hüften hat, bekommt ja auch nicht für eine Seite ein neues Gelenk und für die andere Seite eine Krücke.«

Artikel vom 25.02.2006