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Der genialste Bettler Deutschlands

»Pfennigvereine« und Brockensammlung gegründet - Dank mit Stempelunterschrift

Bielefeld (WB/bp). Der erste deutsche Bundespräsident Theodor Heuss meinte einmal, Friedrich von Bodelschwingh sei »der genialste Bettler« gewesen, den »Deutschland je gesehen hat«.
Ida und Friedrich von Bodelschwingh bekamen acht Kinder, vier von ihnen starben an Diphterie.

Bei der Finanzierung des rasanten Wachstums der »Anstalt für Epileptische«, die seit 1874 den Namen Bethel (Haus Gottes) trug, erwies sich Bodelschwingh als talentierter Spendensammler. Er gründete »Pfennigvereine«, in denen viele Menschen die Arbeit Bethels unterstützten. Diese Vereine brachten nicht nur bedeutsame Summen zusammen, sondern beteiligten eine große Zahl von Helfern an dem Aufbauwerk und mobilisierten weite Kreise der Bevölkerung. Zu den Prinzipien der Spendenwerbung gehörte es, für jede Gabe schriftlich zu danken - so entstand der »Dankort«, wo mehrere Hilfskräfte solche Dankschreiben anfertigten und mit dem Namenszug Bodelschwinghs stempelten.
Zu den wichtigsten Einnahmequellen gehörten die jährlichen Kirchen- und Hauskollekten. Auf Grund seiner Beziehungen hatte Bodelschwingh keine Mühe, von den Kirchenleitungen und staatlichen Behörden die Genehmigung zu solchen Kollekten zu erwirken.
Bodelschwingh gründete auch die heute noch existierende Brockensammlung. Dort sollten Bethel-Bewohner Arbeit finden beim Aussortieren, Herrichten, Ausbessern und Vervollständigen von Kleidungsstücken, die gespendet wurden. Sogar das Hemd Napoleons soll sich einmal unter den Brocken befunden haben. Bodelschwingh verkaufte es mit einem Echtheitszeugnis 1893 an einen Amerikaner. 1,75 Mark brachte ein Brief Friedrichs II. vom 21. August 1784.
1892 kaufte Bodelschwingh den Hof Enon wegen einer starken Quelle, die auf dem Grundstück sprudelte. Die Kaufsumme von 50 000 Mark brachte er innerhalb von drei Monaten auf, indem er die Freunde Bethels bat, jeweils einen Liter kaltes Wasser für eine Mark zu kaufen. Im Keller des Kaufhauses Ophir ließ er Selterswasser - Bethel-Sekt - herstellen, außerdem betrieb er einen schwunghaften Bromkaliversand.
Seit 1887 ist Bethel der Misson in Tansania verbunden. Als 1899 in Ostafrika eine Hungersnot ausbrach, initiierte Bodelschwingh die Kampagne »Brot für Steine«. In Afrika wurden Steine zum Bau einer Kirche herbei geschafft, die Arbeiter dafür bezahlt. »Brot für Steine« trug 300 000 Mark zusammen. Der eingängige Slogan und die Konzeption, die dem Spender das Gefühl vermittelte, durch Linderung des Hungers und den Bau einer Kirche unmittelbar am christlichen Liebeswerk beteiligt zu sein, beflügelte die Spendenbereitschaft.
Während Friedrich von Bodelschwingh privat mit einem bescheidenen Jahresgehalt in überaus einfachen Verhältnissen lebte, scheute er, wenn er ein neues Werk in Angriff nahm, keinerlei finanzielles Risiko und soll eine »unbeschwerte Sorglosigkeit im Schuldenmachen« an den Tag gelegt haben.
Noch heute bestreitet Bethel einen nicht unerheblichen Teil seiner Finanzierung aus dem Spendenaufkommen.
Der vor kurzem verstorbene Altbundespräsident Johannes Rau bekundete bei seinem Besuch in Bethel 2002, dass die Tradition des Spendensammelns bis heute eine hohe Kultur habe. Wenn man in der Betheler Spenden-Kartei sei, so Rau, dann »kommt man da nicht mehr 'raus«: »Ich finde, die Kartei von Bethel ist das fröhlichste und sinnvollste Gefängnis, das ich mir denken kann.«

Artikel vom 01.03.2006