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Sprache stiftet Identität
und ist Machtinstrument

Linguisten lehnen Zwang zum »Pausendeutsch« ab

Von Sabine Schulze
Bielefeld (WB). 6000 Sprachen gibt es weltweit, zwei Drittel davon sind bedroht. »Sie werden wahrscheinlich bis Ende des 21. Jahrhunderts verschwunden sein«, fürchtet Prof. Dr. Dafydd Gibbon. Eine Folge der Globalisierung.

Mit den bedrohten Sprachen befasst sich seit Mittwoch die Deutsche Gesellschaft für Sprachwissenschaft in ihrer Jahrestagung. 500 Teilnehmer sind aus aller Welt angereist, die lokalen Organisatoren sind neben Gibbon die Linguisten Prof. Dr. Barbara Job und Prof. Gerhard Jäger, Universität Bielefeld.
»Mit jeder Sprache, die stirbt, stirbt eine Bibliothek, stirbt eine Kultur und stirbt Wissen«, sagt Job. Sprache, betonen die Wissenschaftler, sei wichtig für die Identität, für die Wurzeln einer Gesellschaft. Akut gefährdet sind das Sorbische, das in der Niederlausitz gesprochen wird, das Friesische oder das Gälische, ebenso aber unzählige Sprachen in Lateinamerika oder Afrika, wo es viele lokale Handelssprachen und kleine Sprachgemeinschaften gibt.
Nicht immer verzichten die Menschen freiwillig darauf, ihre Sprache zu sprechen: »Sprache ist auch Macht«, betont Gibbon. Die Nazis haben das Hebräische und Jiddische verboten, Stalin hat Minderheitensprachen ausgemerzt. Minderheiten werden diskriminiert, in dem man ihnen die Sprache der Mehrheit aufzwingt, sie werden denunziert als Verschwörer, indem ihre Sprache als Geheimsprache aufgefasst wird - wie die der Ega an der Elfenbeinküste.
Verhindern können die Linguisten das Verschwinden von Sprachen kaum - »aber wir können die Ideologien, die dahinter stecken, offenlegen«, sagt Prof. Dr. Rosemarie Tracy, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Sprache. Und schließlich können die Wissenschaftler die bedrohten Idiome rechtzeitig beschreiben und dokumentieren und so der Nachwelt erhalten.
Dem reinen Selbstzweck dient auch das nicht: »Auch durch Sprachvergleiche kann die Vorgeschichte des Menschen rekonstruiert werden, können Wanderbewegungen nachvollzogen werden«, betont Jäger. Sprache erhellt also Zusammenhänge.
Zu Wort melden sich die Sprachwissenschaftler auch in der Diskussion über den Sprachgebrauch auf dem Schulhof. Anlass war die Selbstverpflichtung an einer Berliner Schule, sich auch auf dem Schulhof nur des Deutschen zu befleißigen. Ein kostengünstiges Problemlösungsmodell sei das nicht, merken die Forscher an.
»Es steht außer Frage, dass Deutsch als Schlüsselqualifikation für die Migranten in unserem Land wichtig ist«, sagt Tracy. Aber es sei absolut demotivierend, die eigene Sprache nicht benutzen zu dürfen. »Mit Sprachverboten haben wir schlechte Erfahrungen, sie wirken in der Regel kontraproduktiv.« Und da es sich bei den Betroffenen um junge Menschen handele, die im Unterricht ständig mit den Grenzen ihrer sprachlichen Möglichkeiten konfrontiert seien, würden sie in ihrer Identität weiter verunsichert.
Ohnehin, meinen die Wissenschaftler, sei das »Pausendeutsch« selten zielführend und bringe nichts für den Schrifterwerb. »Mehrsprachigkeit ist doch erwünscht, das sollte nicht nur für Prestigesprachen wie Englisch oder Französisch gelten«, sagt Tracy und ergänzt: »Im Kopf ist viel Platz!«
Um die Integration voranzubringen, setzen die Sprachwissenschaftler auf mehr Deutschunterricht mit Lehrern, die Kenntnisse im Bereich Deutsch als Zweitsprache haben, auf gemeinsame Projekte von Schülern, auf die Schaffung von »Kommunikationsanlässen« (Debattierclub, Theater und mehr), auf bilinguale Schulprogramme und auf die Einrichtung des Schulfaches »Sprachen«: Das könne das Bewusstsein für die Bedeutung von kommunikativen Regeln und sprachlichen Eigentümlichkeiten schärfen. Selbstkritisch merken die Linguisten an, dass sie selbst versäumt hätten, ihre Erkenntnisse deutlicher zu verbreiten.

Artikel vom 24.02.2006