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Zuverlässiger Chronist
deutscher Wendepunkte

Erich Loest wird heute 80 und will noch viel schreiben

Von Dietmar Kemper
Leipzig (WB). Wer wissen will, wie es in der DDR zuging, sollte Erich Loest lesen. Dessen Bücher zeugen von großem erzählerischen Talent und hohem dokumentarischen Wert. Loest wird heute 80 Jahre alt.

»Erich Loest ist ein zuverlässiger Zeitzeuge, jemand, der viel recherchiert und der Genauigkeit der Darstellung den Vorzug vor sprachlicher Brillanz gibt«, sagte der Präsident des PEN-Clubs Deutschland, Johanno Strasser, gestern dieser Zeitung. Er kennt Loest seit 1981, als der Kaufmannssohn aus dem sächsischen Mittweida in die Bundesrepublik übersiedelte und die ersten Texte im Westen für die politisch-literarische Zeitschrift »L80« schrieb. Sie war ein Projekt von Strasser, Böll und Grass.
»Ich muss noch so einiges schreiben«, sagte Loest am Mittwochabend zu Strasser bei einem Treffen im Vorfeld der Feiern zum 80. Geburtstag. Stets wusste Erich Loest als Autor, worüber er schrieb, denn er hat die DDR durchlitten. Die brutale Unterdrückung des Arbeiteraufstandes am 17. Juni 1953 durch russische Panzer erschütterte seinen Glauben an den Kommunismus. Das SED-Mitglied ging auf Distanz und forderte eine Demokratisierung der Gesellschaft.
1957 wurde er aus der Partei ausgeschlossen und wegen angeblicher »konterrevolutionärer Gruppenbildung« zu siebeneinhalb Jahren Zuchthaus in Bautzen verurteilt. Die Haft im berüchtigten »Gelben Elend« bezeichnete Loest später als »gemordete Zeit«. Zum Pessimisten machte sie ihn trotzdem nicht. »Er trägt keinen Leidensdruck vor sich her«, sagt Strasser über den Weggefährten.
Loest, der sich selbst einen »literarischen Grenzgänger« nannte, beschrieb die Wendepunkte deutscher Geschichte. In »Sommergewitter« (2005) schilderte er den Aufruhr im Juni 1953 gegen höhere Arbeitsnormen und politische Bevormundung, in »Nikolaikirche« (1995) die Montagsdemonstrationen, die das Ende des Honecker-Staates einleiteten. In seinen Büchern versammele sich der »eindrucksvolle politische Erfahrungsschatz aus mehreren Jahrzehnten«, lobt der Verband deutscher Schriftsteller (VS).
Wer Loest liest, erfährt viel über die Stadt Leipzig und ihre Menschen. Mit »Es geht seinen Gang« (1978), »Völkerschlachtdenkmal« (1984), »Zwiebelmuster« (1985), dem großen Erfolg »Nikolaikirche« (1995) und »Reichsgericht« (2001) habe sich Loest »als Chronist dieser Stadt und Sachsens« betätigt, fasst Johanno Strasser zusammen. Seit Ende 1989 lebt Loest in Leipzig und genießt dort den Status eines Ehrenbürgers.
Bis zu einer Lesung in Bautzen im September 2005 vergingen 40 Jahre. Im selben Jahr erhielt er als erster den Hans-Fallada-Preis der Stadt Neumünster. »Literatur kann klüger, menschlicher und gütiger machen«, misst Loest dem Schreiben fast schon therapeutische Wirkung zu. Mit 80 Jahren ist er kein bisschen müde. »Loest ist prächtig in Form und gut gelaunt«, betont Johanno Strasser.

Artikel vom 24.02.2006