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Höchste Alarmstufe im Irak:
Nun droht ein Bürgerkrieg

Bisher mindestens 130 Tote bei zahlreichen Protesten im ganzen Land

Bagdad (Reuters). Der Irak steht am Rande eines Bürgerkriegs. Nach dem Anschlag auf eine der wichtigsten schiitischen Stätten in dem Golfstaat eskalierte gestern landesweit die Gewalt zwischen Anhängern der verschiedenen moslemischen Religionsgruppen. Innerhalb von 24 Stunden wurden bei zahlreichen Protesten mindestens 130 Menschen getötet.
Einen Tag nach dem Anschlag auf eines der wichtigsten Heiligtümer der Schiiten im Irak hat das Land eine Welle der Gewalt und Proteste erfasst. Hier protestieren Iraker in der Stadt Nadschaf. Foto: dpa

Die meisten davon waren Sunniten. Deren religiöse Vertreter lasteten die Gewalt in einer beispiellosen Kritik dem schiitischen Oberhaupt Ali al-Sistani an. Die größte Partei der Sunniten zog sich aus Gesprächen über eine Regierung der nationalen Einheit zurück und verweigerte sich einem Krisengespräch mit Präsident Dschalal Talabani.
Die USA, die Vereinten Nationen (UN) und die Europäische Union (EU) richteten dringende Appelle an die Iraker, der eskalierenden Gewalt ein Ende zu bereiten. Die irakische Regierung weitete die Ausgangssperren im Land aus und versetzte ihre Sicherheitskräfte in höchste Alarmstufe, um das Land auf die dreitätige Staatstrauer vorzubereiten.
Diese war nach dem Anschlag auf die Goldene Moschee in Samarra am Vortag angeordnet worden. Straßensperren schlossen ganze Stadtviertel von Bagdad weitgehend von der Außenwelt ab. Das Regierungsviertel und die größte sunnitische Moschee in der Stadt wurden weiträumig abgesperrt.
Es gab nur noch wenig Verkehr, und die meisten Geschäfte blieben zu. Auch wagten sich nur wenige Fußgänger auf die Straße. »Um ehrlich zu sein, es ist einfach zu gefährlich, um unterwegs zu sein. Überall könnte es einen Hinterhalt geben«, sagte ein sunnitischer Politiker.
Bei Ausschreitungen am Rande schiitischer Proteste gegen die Tat, hinter denen die Regierung und die USA sunnitische Rebellen mit Verbindungen zur El-Kaida vermuten, waren offiziellen Angaben zufolge nur in Bagdad innerhalb von 24 Stunden 53 Menschen getötet worden. An einem vorgetäuschten Kontrollpunkt erschossen Extremisten allein 47 Menschen. Sie zogen ihre Opfer an der Straßensperre aus den Fahrzeugen, erschossen sie und warfen die Leichen anschließend in den Straßengraben.
In Basra, der zweitgrößten und mehrheitlich schiitischen Stadt im Süden, starben demnach 25 Menschen. In Samarra wurden drei Journalisten des arabischen Fernsehsenders Al-Arabija erschossen. Sie waren in die Stadt gekommen, um dort über den immens symbolträchtigen Anschlag auf die Grabstätte zweier schiitischer Oberhäupter aus dem neunten Jahrhundert zu berichten. In der von beiden Religionsgruppen bewohnten Stadt Bakuba wurden bei einem Bombenanschlag auf eine Patrouille der irakischen Armee zwölf Menschen getötet und mindestens 21 verletzt. Im ganzen Land wurden während der Proteste Dutzende von sunnitischen Moscheen beschossen oder angegriffen. Allein in Bagdad gingen drei Gebetshäuser der Religionsgruppe in Flammen auf.
Die religiösen Vertreter der irakischen Sunniten warfen Groß-Ajatollah Al-Sistani vor, die Gewalt durch seinen Aufruf zu Protesten gegen den Anschlag geschürt zu haben. Die sunnitische Front Irakische Eintracht hielt der bisherigen von Schiiten geführten Regierung vor, die Aggression gegen ihre Gemeinschaft nicht verurteilt und deren Stätten nicht ausreichend geschützt zu haben. Deswegen seien weder Krisengespräche noch weitere Verhandlungen über eine Regierungsbeteiligung möglich, erklärte die Partei.
Die Front ist die größte sunnitische Fraktion im neuen Parlament, das im Dezember gewählt wurde und in dem die Schiiten die Mehrheit stellen. Die Schiiten stehen unter dem Druck der US-Alliierten, eine Koalition über alle Religions- und Volksgruppen hinweg zu bilden.
Der UN-Sicherheitsrat, der seit dem US-geführten Einmarsch in den Golfstaat selten zu einer gemeinsamen Stimme in irakischen Angelegenheiten findet, äußerte sich alarmiert: »Die Mitglieder des Sicherheitsrates verstehen die Pein, die durch die Anschläge ausgelöst wurde, appellieren an das irakische Volk jedoch, den Tätern durch Zurückhaltung und Einheit zu widerstehen.«

Artikel vom 24.02.2006