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Superhirn plant
den Supercoup

Täter erbeuten 73 Millionen Euro

London (dpa). Unweigerlich haben die Briten wieder Ronnie Biggs vor Augen. Und natürlich den Königlichen Postzug, den er mit seiner Gang 1963 auf der Fahrt von Glasgow nach London ausraubte.
Die Polizei hat nach dem Millionenraub gestern Abend zwei Verdächtige verhaftet. Foto: Reuters

120 Geldsäcke im Wert von heute etwa 50 Millionen Euro - in dieser Liga spielen auch Biggs geistige Erben, die dem Königreich nun mit einem kaltblütig ausgeführten Überfall den vermutlich größten Geldraub der britischen Kriminalgeschichte bescherten.
»Das war organisierte Kriminalität auf höchstem Niveau«, sagte der stellvertretende Polizeichef der betroffenen Grafschaft Kent. Zugleich stellte er klar: »Wir werden diese Bande fangen, daran habe ich gar keinen Zweifel.«
Gestern Abend verhaftete die Polizei im Großraum London einen 29 Jahre alten Mann und eine 31-jährige Frau. Die Polizei ließ aber noch offen, was ihnen zur Last gelegt wird. Gefahndet wird nach einer Bande von insgesamt sechs bis neun Tätern.
Begonnen hatte der Überfall im Dämmerlicht. In Feierabendstimmung war der Sicherheitsdirektor eines des größten Gelddepots Europas am Dienstagabend auf dem Weg nach Hause. Sein Arbeitsplatz - das Wertdepot der Firma Securitas in der Ortschaft Tonbridge in Südostengland - lag hinter und ein gemütliches Abendbrot mit seiner Frau und dem achtjährigen Sohn vor ihm.
Dann tauchten vor den Augen des Sicherheitschefs am Straßenrand der A249 zwei Gestalten in den leuchtend neongelben Umhängen der britischen Verkehrspolizei auf und winkten ihn an den Straßenrand. Der Fahrer hielt an. Sekunden später schaute er in den Lauf einer Pistole und eine entschlossene, Furcht einflößende Stimme sagte: »Deine Familie wird sterben, wenn Du nicht genau das tust, was wir wollen.«
Kurz zuvor hatten zwei andere neongelbe »Polizisten« an dem Haus des Direktors geklingelt. Sie schauten betroffen drein: »Tut uns leid, aber Ihr Mann hatte einen Unfall. Sie müssen bitte mitkommen und nehmen sie auch den Jungen mit, es könnte dauern.«
»Dies war eine traumatische Tortur für den Direktor, seine Frau und deren kleinen Sohn«, sagte später, als alles vorüber und die Bank of England um vermutlich bis zu 50 Millionen Pfund (73,3 Millionen Euro) »erleichtert« war, der Detective Superintendent Paul Gladstone, der die Ermittlungen leitet. Die Polizei will verstärkt auf Informationen von »Plauderern« setzen. Die Belohnung von nahezu drei Millionen Euro könne »ein starkes Motiv sein, uns zu helfen«.
Ronnie Biggs und seine 14 Mittäter hatte die Polizei auch gejagt und - nicht zuletzt dank »hilfreicher Hinweise« - schon bald erwischt. Der Chef-Posträuber entkam zwar wieder, aber er floh bis nach Brasilien, verplemperte dabei seine Beute und büßte auch noch seine Gesundheit ein. Er war 71, als er sich schwer krank und arm der britischen Polizei stellte.
Dieses Schicksal hatten die Räuber von Tonbridge wohl vor Augen. Deshalb dürften diese Männer, die ihren Plan mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks umsetzten, ihre Flucht mindestens ebenso sorgfältig geplant haben, wie den Überfall.
Zweieinhalb Stunden nach Mitternacht tauchten die Gangster mit dem Direktor, dessen Frau und Kind, die sie als Geiseln hielten, vor dem Securitas-Depot auf. Rasch waren die 15 Securitas-Wachmänner mit Plastikhandschellen gefesselt. Das Schleppen der Geldsäcke machten sich die Täter leicht: Die Paletten voller gebündelter Geldscheine wurden per Gabelstapler in einen weißen Siebeneinhalb-Tonner gebracht. Vermutlich war die Beute längst auf mehrere andere Fluchtautos verteilt, als sich die Wachleute befreiten und auf den Alarmknopf drückten.
»Das ganze Ding«, sagte ein Fahnder, »scheint Superhirn persönlich geplant zu haben.«

Artikel vom 24.02.2006